CANNES-REPORT III: FAZIT

Der diesjährige Wettbewerb

Cannes schneidet mit seinem Offiziellen Wettbewerb im Jahr 2017 qualitativ besonders schlecht ab. Bei Filmen wie Jacques Doillons RODIN (2017), Kornél Mundruczós JUPITER’S MOON (2017), Michel Hazanavicius’ LE REDOUTABLE (2017) oder aber auch Bong Joon Hos OKJA (2017) fragt man sich ernsthaft, was diese hier zu suchen hatten. Werke wie Naomi Kawases HIKARI (2017) und François Ozons L'AMANT DOUBLE (2017) wären in der Nebensektion Un Certain Regard besser aufgehoben gewesen und wurden eindeutig aus Gründen der quantitativen Aufstockung und faute de mieux in den Wettbewerb aufgenommen. Es ist erschreckend, wenn man bedenkt, dass dies das Durchschnittsniveau des aktuellen Weltkinos widerspiegeln soll. Vorangegangen war im Kinojahr 2017 bereits – dies jedoch wenig überraschend und wie alljährlich – eine äußerst schwache und bedrückende Berlinale im Februar. Hoffen lässt somit noch das Filmfestival Venedig Ende August und Anfang September, das dieses Jahr somit gute Chancen haben wird, von Cannes noch nicht verwertbare qualitative Werke in sein Programm aufzunehmen.


© Bronx (Paris). Photo: Claudia Cardinale © Archivio Cameraphoto Epoche/Getty Images

Die diesjährigen Gewinner

Mit der schwedischen Gesellschafts- und Politsatire THE SQUARE (2017) von Ruben Östlund, der mit seinem zweieinhalbstündigen Film in die Compétition Officielle noch nachträglich eingeschoben wurde, gewinnt ein Film die Goldene Palme, der anfangs noch durchaus polarisierend rezipiert und spätestens gegen Ende des Festivals dann doch als Geheimfavorit gehandelt wurde. Es bestätigt sich somit die anfängliche Vermutung, dass unter der Zusammensetzung der Jury dieses Jahr ein komödiantisch geprägtes Werk mit dem wichtigsten Filmpreis der Welt honoriert wurde, das sich laut Jurypräsident Pedro Almadóvar gegen die aktuell so hochgehaltene Diktatur der political correctness unserer Zeit stemmt. Thematisch dreht sich THE SQUARE um den schwedischen Kunstkurator Christian und dessen neuer Ausstellung gleichen Namens, die Besucher zu mehr Altruismus im Alltag animieren soll. Christians Privatleben und die Entscheidungen die er in ihm trifft interferieren mehr und mehr mit den hehren Zielen, die er mit der Ausstellung verbindet und entlarven somit Scheinheiligkeit und Doppelmoral der Kunstszene und Gesellschaft.

Mag dieser Film durchaus lehrhaft und raffiniert inszeniert und auch ganz unterhaltsam sein, entpuppt er sich im Vergleich zum Gewinner des Großen Preises der Jury, Robin Campillos 120 BATTEMENTS PAR MINUTE (2017) als geradezu putziges Nebenwerk. Dieser ebenso zweieinhalbstündige wahrhaftige Gewinner des Wettbewerbs über eine Gruppe französischer Anti-AIDS-Aktivisten Anfang der 1990er Jahre überzeugt auf narrativer, dramatischer wie visueller und akustischer Ebene auf meisterhaft glanzvolle Weise und rührte das Festival in seiner sensiblen Regie an mehreren Stellen immer wieder zu Tränen.

Lynne Ramsays technisch hochgeehrtes Opus YOU WERE NEVER REALLY HERE (2017), das auch in seiner Premiere am vorletzten Tag des Festivals immer noch unfertig war und ohne Abspann aufwartete, konnte mit dem Preis für das Beste Drehbuch ex aequo (gemeinsam mit THE KILLING OF A SACRED DEER [2017]) und für den Besten Darsteller (Joaquin Phoenix) gleich zwei und damit die Höchstzahl an zu vergebener Preise für einen Film gewinnen. Insgesamt stellt Ramsays Werk jedoch sinnloses Gewaltkino aus Selbstzwecken dar, ohne dass auch bloß lose oder abstrakte narrative Bemühungen um eine Geschichte oder eine Figurenentwicklung gemacht werden würden. Es ist eine der letzten großen Enttäuschungen des so müden Wettbewerbs.

Frauen wurden dieses Jahr besonders häufig geehrt und so erhielten nicht nur Nicole Kidman (Spezialpreis zum 70. Jubiläum des Festivals) und Sofia Coppola (Preis für die Beste Regie für THE BEGUILED [2017]) Ehrungen, sondern auch die Nachwuchsregisseurin Léonor Serraille die Goldene Kamera (Preis für das Beste Debüt) für ihren Film UNE JEUNE FEMME (2017) in der Sektion Un Certain Regard. Sie setzte sich damit gegen eine dieses Jahr besonders hohe Anzahl an Erstlingswerken durch. Der Preis für die Beste Darstellerin ging an Diane Kruger für ihre Rolle in Fatih Akins AUS DEM NICHTS (2017). Der als Favorit für die Goldene Palme gehandelte herausragende Film LOVELESS (2017) des Russen Andrey Zvyagintsev erhielt am Ende lediglich den Preis der Jury, was dem Dritten Platz entspricht.

Highlights

Auch dieses Jahr hielten einige Filme und Veranstaltungen des Filmfestivals einen schier unermesslichen Andrang seitens der Presse, Markt- und sonstigen Festivalbesucher bereit. So waren die ersten beiden und zu einem großen Teil auch die dritte Pressevorführung von Michael Hanekes HAPPY END (2017) unmöglich zu erreichen. Ein Film, dessen Hype wie gesehen am Ende nicht gerechtfertigt war – ohne Preise bedacht fiel er auch unter den Journalisten durch.

Der am stärksten umworbene Star des Festivals durfte der inzwischen 87-jährige Clint Eastwood gewesen sein, der am ersten Sonntag eine Masterclass abhielt. Auch hier gab es einen Ansturm, der seinesgleichen suchte und bereits zwei Stunden vor Beginn zu einem nur noch priorisierten Zugang führte. Auch insgesamt waren die Warteschlangen zu einzelnen Abendvorführungen, selbst in den Nebensektionen, so zum Beispiel zu Sean Bakers THE FLORIDA PROJECT (2017) oder Bruno Dumonts Musical JEANNETTE, L’ENFANCE DE JEANNE D’ARC (2017), überwältigend groß. Die obzwar mitunter gewaltigen Kinopaläste konnten somit auch dieses Jahr nicht annähernd die Publikumsnachfrage befriedigen und das, obwohl die Anzahl der Screenings für Presse und Marktbesucher erneut angehoben wurde.

Nicole Kidman, 2017 an der Côte d'Azur mit insgesamt vier Projekten vertreten (darunter Sofia Coppolas THE BEGUILED [2017] und Yorgos Lanthimos’ THE KILLING OF A SACRED DEER [2017]), darf als die zentrale Figur dieses Jahres gelten und erhielt just den 70. Jubiläumspreis des Festivals. Eine überraschende Auszeichnung in personam, gewann doch mit Gus van Sants PARANOID PARK (2007) seinerzeit zum 60. Jubiläum zehn Jahre zuvor noch ein Filmwerk diesen Spezialpreis.

Letztlich lebte das Festival auch dieses Jahr wieder vom multikulturellen Austausch der so vielen anwesenden Nationen und Personen, der einzigartigen paradiesischen Idylle von Mittelmeer, Sonne, Palmen und Strand und der schier unendlichen Vielfalt an Filmen, Pressekonferenzen, Interviews, Workshops, Come-Togethers, Feiern, Empfänge und anderer Veranstaltungen. Cannes ist und bleibt damit auch bei mittlerer filmischer Güte jährlich für zwölf volle Tage im Mai ein Ort der kulturellen und künstlerischen Inspiration, des feierlichen und respektvollen Zusammenkommens aus Gründen der gemeinsamen Liebe zum Kino und schließlich der Völkerverständigung.

Fazit

Mit der diesjährigen Jubiläumsausgabe des Filmfestivals Cannes geht eines der qualitativ wohl schwächsten seit vielen Jahren zu Ende. Wie so oft zuvor, setzte sich der filmisch eigentlich stärkere Beitrag des Wettbewerbs, Robin Campillos 120 BATTEMENTS PAR MINUTE, gegen einen kleineren unbedarften Film, Ruben Östlunds THE SQUARE, nicht durch und platzierte sich nur auf Platz zwei (ähnlich auch 2016, als Andrea Arnolds AMERICAN HONEY [2016] gegen Ken Loachs I, DANIEL BLAKE [2016] verlor). Was von Cannes 2017 bleibt, ist ein Festival, das sich innovatorisch vielen neuen Richtungen aufschloss, experimentierte und mit dem Netflix-Thema eine wichtige, die Grundfesten des Kinobesuchs berührende Debatte neu befeuerte. Mit seinem horriblen Wettbewerb und den ebenso schwachen bis überflüssigen Nebensektionen dieses Jahr enttäuschte es jedoch auf ganzer Linie und spiegelte so wohl das traurige Gesamtniveau des aktuellen Weltkinos in zutreffender Weise wider.

by ehemaliger Mitarbeiter
Photos © Festival de Cannes + FDC / Philippe Savoir (Filifox)