CANNES-REPORT II: ZWISCHENBERICHT - Enttäuschender Wettbewerb

Mit dem Film THE KILLING OF A SACRED DEER (2017) vom griechischen Filmemacher Yorgos Lanthimos ging gestern nach einhelligem Kritikervotum vor Ort der dritte große filmische Reinfall ins Rennen um die Goldene Palme, die am kommenden Sonntag verliehen wird. Auch des Ungars Kornél Mundruczós JUPITER’S MOON (2017) und das völlig indiskutable Biopic über Jean-Luc Godard, Michel Hazanavicius’ LE REDOUTABLE (2017), fielen extrem negativ im diesjährigen Wettbewerb auf. Die drei Werke stehen symptomatisch für ein äußerst durchwachsenes Filmprogramm in der Offiziellen Selektion. Hat dies damit zu tun, dass große Namen wie Paul Thomas Anderson, Lars von Trier oder Jacques Audiard sich mit ihren Werken momentan in der Dreh- und Produktionsphase befinden und Kandidaten für die nächstjährige Ausgabe des Festivals sind? Oder damit, dass das Gros an veritablen Regisseuren wie Jean-Pierre und Luc Dardenne, Cristian Mungiu und Asghar Farhadi bereits letztes Jahr in Cannes vertreten war? Nachdem auch Michael Haneke am gestrigen Abend überraschend durchschnittlich aufgenommen wurde, bleiben lediglich noch Fatih Akin und Lynne Ramsay als mögliche filmische Highlights des Festivals am Freitag und Samstag. Es bleibt dabei, dass Andrey Zvyagintsevs LOVELESS (2017) das bisher visuell und dramaturgisch bestechendste Werk ist.


© Bronx (Paris). Photo: Claudia Cardinale © Archivio Cameraphoto Epoche/Getty Images

Kaum von sich reden macht die diesjährige Quinzaine des Réalisateurs, obwohl diese auf den ersten Blick durchaus vielversprechend anmutete. Als gestern Abend auch noch Sean Bakers THE FLORIDA PROJECT (2017) mit Willem Dafoe in der Hauptrolle als ein anspruchslos montagiertes Machwerk der Note Andrea Arnold mit nur ganz leisen und schüchternen politischen Anklängen vom Publikum mit nur sehr verhaltenem Applaus goutiert wurde, war endgültig klar, dass auch diese Sektion 2017 enttäuschen wird. Bezeichnend und pars pro toto ist dabei der mangelnde Mut zur soziopolitischen Stellungnahme und dessen innovative visuelle Umsetzung – und das in einem Werk, das sich ausweislich der Ankündigung des Regisseurs am Abend genau dies zur Aufgabe gemacht hat. Es bleibt zu hoffen, dass Jude Ratnams mit Spannung erwartetes Debüt DEMONS IN PARADISE (2017), eine Dokumentation über den tamilischen Bürgerkrieg in Sri Lanka, die am Mittwochabend in der Offiziellen Selektion Premiere feiern wird, diese Tendenzen ansatzweise zu korrigieren vermag.

Grundtendenzen des Festivals:

Politische Werke wie DEMONS IN PARADISE sieht man in der 70. Ausgabe des Filmfestivals Cannes so gut wir gar nicht. Sowohl Mundruczó als auch Haneke haben in ihrem Werk gar nicht bis kaum politische Inhalte verarbeitet, geschweige denn Stellung dazu bezogen. Insbesondere ersterer entpuppte sich als ein Actionfilm unterster Güte, der bestenfalls außer Konkurrenz oder in der Sektion Un Certain Regard gut aufgehoben gewesen wäre. Dadurch, dass Ruben Östlund mit THE SQUARE (2017), der überraschenderweise sehr gut aufgenommen wurde, Noah Baumbach mit THE MEYEROWITZ STORIES (2017) und nun sogar Michael Haneke ein mehr oder weniger komödiantisches Werk abgeliefert haben, bestätigt sich die anfängliche Vermutung eines filmisch heiter geprägten Wettbewerbs. Ernste Themen vermisst man schmerzlich.

Einen ebenso laxen und unseriösen Umgang pflegte die Filmcrew um Baumbach, welche die virulente Netflix-Debatte, die bereits seit Mitte April hohe Wellen geschlagen hat, ins Lächerliche zog. Während Wettbewerbsjuror Will Smith den Einfluss des Streaming-Unternehmens auf die Festival- und Kinokultur als gering einschätzte, stellte Pedro Almodóvar von Anfang an fest, dass sich Baumbach und Bong Joon Ho (vertreten mit seinem lächerlichen Fantasyfilm OKJA [2017]) wohl nur äußerst geringe Chancen auf eine Preisvergabe am Sonntag machen dürfen.

Findet somit eine künstlerische Flucht vor den momentanen virulenten globalpolitischen und sozialen Themen in Fantasie, Heiterkeit und Geschichte statt? Niemand erwartet, dass sich Cannes jedes Jahr und schwerpunktmäßig mit ernsten Themen beschäftigen muss. Doch ist es schon auffällig, dass es gerade die leichten Filme sind, die auch kinematografisch nicht zu überzeugen vermögen. Hierfür aber muss Cannes definitiv einstehen. Es macht sich damit eine qualitative Tendenz breit, die diesem Festival grundsätzlich nicht und schon gar nicht zum 70. Jubiläum würdig ist. Man betrachte sich nur den unendlich starken Wettbewerb um Gus van Sant, David Fincher, Quentin Tarantino, Cristian Mungiu, Naomi Kawase, Béla Tarr oder Julian Schnabel in der 60. Ausgabe 2007.

Zwischenfazit:

Das 70. Filmfestival Cannes kennt bisher angesichts der mitunter schlechten Qualität der Filme noch keinen klaren Favoriten um die Goldene Palme. Todd Haynes und Michael Haneke konnten nicht überzeugen; Mundruczó, Hazanavicius und Lanthimos bilden bisher die Tiefpunkte des Wettbewerbs. Den vielen lustig-verspielten Filmen im Offiziellen Wettbewerb und dem Eindruck bisher schwach anmutender Nebensektionen muss dringend ein filmisch qualitativeres Kontergewicht in der zweiten Hälfte der Festivalspielzeit entgegengesetzt werden.

by ehemaliger Mitarbeiter
Photos © Festival de Cannes + FDC / Philippe Savoir (Filifox)