CANNES 2017: Kurzkritik zu Andrey Zvyagintsev: LOVELESS (2017)
Wie erwartet liefert der Russe Zvyagintsev auf dem Filmfestival Cannes eine nicht nur regiehandwerklich enorme Leistung ab. Sein Film LOVELESS (2017), der neben Todd Haynes’ Familienmelodrama WONDERSTRUCK (2017) den Offiziellen Wettbewerb am Freitag eröffnete, zeichnet ein gleichermaßen anspruchsvolles, komplexes und reichhaltiges russisches Gesellschaftsporträt der Entmenschlichung mit universellem Geltungsanspruch.
Zvyagintsev legt keinen Wert darauf, Spannung zu erzeugen. Es geht ihm allein darum, die Gründe und Konsequenzen für das Verschwinden von Kindern in der heutigen Zeit und Gesellschaft aufzuzeigen. Dabei stößt er bis in die größten Tiefen sozialer und familiärer Psychologie vor, ohne darüber jedoch den ihn so kennzeichnenden kinematografischen Glanz zu opfern. So wird nicht nur aufgezeigt, aus welchen unterschiedlichen Motiven heraus Menschen dazu kommen, Kinder zu bekommen und wie diese wiederum die eigene Selbstverwirklichung im Leben genauso beflügeln wie auch behindern können. LOVELESS zeigt ebenso das behördliche Misstrauen und Desinteresse des Staates am Verschwinden eines Kindes sowie das generationenübergreifende Fehlen an Solidarität und Mitgefühl. Es entsteht ein sehr diversifiziertes und gelungenes Bild der individuellen wie gesellschaftlichen Gesamtfragilität um die Durchsetzung von Eigeninteressen auf Kosten anderer.

Doch bleibt es dabei, dass LOVELESS einen sehr starken und bereits unter den Kritikern vor Ort stark gewürdigten Auftakt bildet, der sich berechtigte Hoffnung namentlich auf die Festivalpreise Beste Regie, Bestes Drehbuch und Beste Hauptdarstellerin (Maryana Spivak als Zhenya mit einer bestechenden Leistung als hasserfüllte und eigensüchtige Mutter) machen darf.
by ehemaliger Mitarbeiter
Photos © Festival de Cannes
Photos © Festival de Cannes