CANNES-REPORT II: ZWISCHENBERICHT - 71. INTERNATIONALE FILMFESTSPIELE VON CANNES 2018 8. - 19. Mai 2018

Erste Einschätzung

Dauerregen an der Croisette – wie das Wetter dieses Jahr lässt wie bereits seit vielen Jahren auch die Qualität der Filme, insbesondere im Wettbewerb um die Goldene Palme, sehr zu wünschen übrig. Die letzte durchgehend starke Ausgabe dürfte das Festival 2011 mit Filmen von Terrence Malick (THE TREE OF LIFE), Jean-Pierre und Luc Dardenne (DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD), Lynne Ramsay (WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN), Nuri Bilge Ceylan (ONCE UPON A TIME IN ANATOLIA) und Lars von Trier (MELANCHOLIA) gehabt haben. Immer mehr scheint sich indes die Tendenz zu verfestigen, dass Cannes an qualitativ hochwertigen Filmen nur noch über die Jahre hinweg, doch nicht mehr so recht innerhalb seiner jährlichen Ausgaben goutiert werden kann. So ist der Wettbewerb die einzig lohnende Sektion anno 2018. Und auch hier sucht man nach wirklich positiv aus der Reihe fallenden Filmen nur mühsam bis vergeblich.



Bisherige Highlights und Enttäuschungen

Überwältigenden Ansturm und die wohl größte Nachfrage seitens des Publikums erhielt jedenfalls erwartetermaßen Gaspar Noés CLIMAX, der am Sonntagabend in der Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs Premiere feierte. Der apostrophierte Skandalregisseur erzählt darin 95 Minuten lang von den Tanzproben zwanzig junger Frauen und Männer in einem ehemaligen und verlassenen Internat, die nach dem Konsum von viel Alkohol und Drogen in eine Orgie der Sinne ausbrechen. Noé liefert so nach ENTER THE VOID (2009) und LOVE (2015) das für ihn typische immersiv-intensive Filmerlebnis voll Sensualität und Spiritualität und ein weiteres Male ein einzigartiges Kinoerlebnis.

Im Kritikervotum fielen bisher A.B. Shawkys ägyptisches Roadmovie YOMEDDINE und Eva Hussons Antikriegsfilm LES FILLES DU SOLEIL besonders stark durch. Als große Favoriten auf die Goldene Palme, die kommenden Samstagabend vergeben wird, gelten bisher des Polen Pawel Pawlikowskis Schwarzweißdrama COLD WAR über ein Liebespaar in Polen in den 1950er-Jahren und wie erwartet LAZZARO FELICE der Italienerin Alice Rohrwacher. Die Regisseurin erhielt in Cannes bereits 2014 den Großen Preis der Jury für THE WONDERS. Rohrwacher steht mit dem Porträt italienischer Kleinfamilien und Bauern im ländlichen Raum stilistisch und thematisch sehr pointiert in der Nachfolge der Gebrüder Taviani und Pasolinis.

Gelächter in der Pressevorführung aufgrund der vielen gekünstelten dramaturgischen Verästelungen und des erbärmlichen Spiels seiner Hauptdarsteller erhielt sogleich der Eröffnungsfilm EVERYBODY KNOWS von Asghar Farhadi. Nur zwei Jahre nach seinem vor Ort gefeierten Erfolg THE SALESMAN (2016) handelt es sich bei dem vorliegenden Werk anscheinend um eine schnell heruntergeschriebene und -gedrehte Auftragsarbeit von Hauptdarstellerin Penélope Cruz, die ohne jeden thematischen oder ästhetischen Mehrwert ist. Auch die Werke Spike Lees (BLACKKKLANSMAN) und nicht zu reden vom unendlich albernen und geschmacklosen Beitrag Lars von Triers (THE HOUSE THAT JACK BUILT), dessen Kino nun endgültig zuende sein dürfte, stießen am Montagabend auf viel Frust und Unverständnis und verdienen noch nicht einmal die Anwesenheit vor Ort.

Cannes ist auch dieses Jahr politisch. So leitete ein Protest von 82 Frauen über die mangelnde Repräsentanz weiblicher Filmregisseure auf dem roten Teppich, stellvertretend für die nur geringe Anzahl an Teilnehmerinnen am Wettbewerb seit 1946, die Premiere Eva Hussons LES FILLES DU SOLEIL ein. Demonstrativ wurden die für Kirill Serebrennikov und Jafar Panahi reservierten, doch erwartetermaßen leergebliebenen Plätze vom Festival exponiert. Wenn auch filmisch überhaupt nicht überzeugend und extrem enervierend verarbeitet Spike Lee in BLACKKKLANSMAN die Geschehnisse in Charlottesville 2017. EN GUERRE des Franzosen Stéphane Brizé, der den Arbeiterwiderstand gegen eine Gewerkschaftsschließung in Frankreich thematisiert, läuft während des Verfassens dieses Textes.



Zwischenfazit und Ausblick

Mit Spannung werden die letzten beiden großen Werke Matteo Garrones DOGMAN und Nuri Bilge Ceylans THE WILD PEAR TREE erwartet. Insbesondere ersteres, welches in einem sozialschwachen, devastierten italienischen Vorort spielt und in dem Garrone zu seinem virulenten sozialrealistischen Stil zurückzukehren scheint, wird wohl den authentischen und harten Kontrapunkt zum märchenhaften Poesiewerk Rohrwachers setzen. Und vermutlich werden sich die diesjährigen Kritikerstimmen gerade an diesen beiden Filmen auch scheiden.

Die Tatsache, dass ein so fragwürdiger Filme wie THE SQUARE (2017) letztes Jahr gar den Hauptpreis des Festivals gewinnen konnte, lässt das Rennen um den wichtigsten Filmpreis der Welt noch völlig unentschieden bleiben. Klar dürfte indes nur sein, dass das momentane Weltkino, gemessen an den hier gezeigten Filmen sich weiterhin in einer qualitativen Krise befindet.

Cannes 2018 zeigt sich mit vielen großen politischen Themen und Kontroversen rund um und in seinen Filmen bisher zwar erfrischend politisch agil, doch bleibt die künstlerische Umsetzbarkeit der meist zu hochgesteckten Ambitionen der Akteure vor Ort weit bis sehr weit dahinter zurück.

by ehemaliger Mitarbeiter
Photos © Festival de Cannes + FDC