CANNES-REPORT I: PREVIEW - 71. INTERNATIONALE FILMFESTSPIELE VON CANNES 2018 8.19. Mai 2018

Die Überraschung war groß als bei der Ankündigung der Offiziellen Selektion der diesjährigen 71. Internationalen Filmfestspiele von Cannes 2018 am 12. April in Paris so bedeutende wie ersehnte Namen wie Jacques Audiard, Xavier Dolan, Mike Leigh, Lars von Trier und Nuri Bilge Ceylan fehlten. Während die letzten beiden ein paar Tage später die Selektion doch noch komplettieren durften, ist bei allen anderen genannten Cannes-Veteranen ein Kinostart erst gegen Ende des Jahres aus mehr oder weniger strategischen Gründen hinsichtlich der Oscar-Verleihung 2019 avisiert. Verlieren die Filmfestspiele von Cannes an Bedeutungskraft?

Die untypisch lang dauernde Pressekonferenz von Direktor Thierry Frémaux und Präsident Pierre Lescure diskutierte all die Neuerungen der diesjährigen Ausgabe. Zunächst war da das lange überfällige Selfie-Verbot auf dem roten Teppich, weiterhin das Streichen der Pressevorführungen noch vor der eigentlichen Weltpremiere der Filme, die nach wie vor schwelende Netflix-Debatte und schließlich der Impakt, den Cannes aus der Weinstein-Affäre und der Metoo-Bewegung ziehen wird. Während die ersten beiden Themen Trivia ohne weiteren Belang sind, erwartet die Weltöffentlichkeit zu den letzten beiden eine weiterhin klare Positionierung des größten und wichtigsten Kultur- und Filmfestivals der Welt, ohne dass die wirkliche sedes materiae der Veranstaltung darunter an Fokalität einbüßen darf: die Filme.



Die Filme

Nach einer größtenteils miserablen Filmauswahl letztes Jahr mutet die diesjährige Selektion nun etwas besser an. Sicher ist aber, dass auch dieses Cannes repräsentativ und symptomatisch für die Qualität des großen Weltkinos bleibt.
Beginnen werden die Filmfestspiele am 8. Mai mit dem Eröffnungsfilm EVERBODY KNOWS (2018) des iranischen Film- und Theaterregisseurs Asghar Farhadi. Der erste Trailer lässt den bewährten, zum Teil überdramatisierenden Stil des Künstlers vermuten, der auf Pseudospannung trimmt und diesmal mit Javier Bardem und Penélope Cruz zudem internationales Starkino repräsentiert.
Ansonsten zeichnet sich auch der diesjährige Wettbewerb wieder durch ein Höchstmaß an Diversifikation aus. Künstlerisch anspruchsvolle Filme mit dem Schwerpunkt Ästhetik und Poesie (Nuri Bilge Ceylan, Lee Chang-Dong), experimentelle (Jean-Luc Godard) und eher politisch fundierte Werke (Stéphane Brizé, Spike Lee) wechseln sich ab mit seichter Kost (Christophe Honoré, Jafar Panahi) und letztlich dem nicht zu fehlenden Hollywoodkino (David Robert Mitchell). Es ist dabei zu beachten, dass selbst Cannes immer nur das an Qualität widerzuspiegeln vermag, was das Weltkino zurzeit aufzubieten hat. Dies tut es aber mit maximaler Stärke. Ein großer Verlust bleiben indes wie gesehen Jean-Jacques Audiard und Xavier Dolan.
Die Deutschen haben sich auch dieses Jahr gerade noch in die Nebensektionen mit zudem sehr fragwürdigen Werken retten können. Insgesamt drei deutsche Filmschaffende sind in Cannes 2018 vertreten: aus eher Freundschaftsgründen zu dem Festival Wim Wenders mit einer betulichen und nichtssagenden Dokumentation über Papst Franziskus, Ulrich Köhler mit einem Film, über den bisher so gut wie noch nichts bekannt ist und Margarethe von Trotta mit einer Dokumentation über Ingmar Bergman. Es wird von allen dreien nichts zu erwarten sein.


Szene aus Everybody Knows: Penélope Cruz, Javier Bardem

Die Sektionen

Kernstück aller Sektionen und Nebenfestivals in Cannes bleibt der Offizielle Wettbewerb mit der eben beschriebenen Diversität. Sicher bleiben auch hier einige Fragen offen, so zum Beispiel, wie es sein kann, dass Jean-Luc Godards Experimentalfilm LE LIVRE D’IMAGE (2018) tatsächlich um die Goldenen Palme konkurrieren darf oder warum eindeutige Kandidaten des Un Certain Regard wie Koreeda Hirokazu oder Jafar Panahi ebenso ihren Platz in die höchste aller Sektionen gefunden haben. Ein eindeutiger Favorit für die Palme d'Or ist bis dato nicht auszumachen, wobei natürlich die Filme Nuri Bilge Ceylans, Matteo Garrones, Eva Hussons und Alice Rohrwachers besondere Aufmerksamkeit verdienen. Der Un Certain Regard bildet auch dieses Jahr einerseits ein Auffangbecken für Open, die es nicht ganz in den Wettbewerb geschafft haben, andererseits ein Sprungbrett für insgesamt sechs Nachwuchskünstler, die mit ihrem Debüt in das begehrte Rennen um die Caméra d’Or gehen. Die hier vertretenen Nationen sind so divers wie ihre Filmschaffenden noch größtenteils unbekannt.
Die 50. Director’s Fortnight schmückt sich in ihrem Jubiläumsjahr mit ebenso eher unbekannten Namen. Einzig hervorzuheben sind hier wohl Cristina Gallego und Ciro Guerra mit PÁJAROS DE VERANO (2018), die die Sektion am 9. Mai eröffnen werden und selbstredend Gaspar Noé mit CLIMAX (2018), von dem wieder eine Transgression filmischer Dimensionen zu erwarten ist. Die jährliche Carrosse d’Or für das Lebenswerk erhält 2018 Martin Scorsese.
Einzig nennenswert in der Sémaine de la Critique ist Paul Danos Regiedebüt WILDLIFE (2018), eine Verfilmung des gleichnamigen Romans Richard Fords mit Jake Gyllenhall und Carey Mulligan. Ansonsten ist wohl auch in dieser Sektion wieder Recycling dessen angesagt, wozu es im Offiziellen Wettbewerb nicht bedurfte.

Die Jury

Die Australierin und wohl zurzeit großartigste Schauspielerin der Welt Cate Blanchett führt die neunköpfige Jury, bestehend aus vier weiteren Frauen – darunter die US-Amerikanerin Kristen Stewart und die Französin Léa Seydoux – an. Aufgrund dieser Dominanz des weiblichen Geschlechts wird zu erwarten sein, dass künstlerische Akzente von Frauen in den zu prämierenden Filmen des Wettbewerbs besonders goutiert werden. Neben Blanchett wird vor allem der Russe Andrey Zvyagintsev, der letztes Jahr mit dem Meisterwerk LOVELESS (2017) den Jurypreis gewann, zu einer gehobenen und anspruchsvollen Wahl bei den Siegerfilmen am 19. Mai beitragen.

Kontroversen und Debatten

Auch dieses Jahr wird Cannes wieder von mehr oder weniger gehaltvollen oder nur fadenscheinigen Kontroversen beseelt sein. Neben den bereits oben angesprochenen essenziellen Debatten um Netflix und Metoo wird mit großer Spannung die Anwesenheit sowohl des iranischen Filmregisseurs Jafar Panahi als auch des russischen Filmschaffenden Kirill Serebrennikov ersehnt, die beide im Iran respektive in Russland unter politischem Hausarrest stehen. Das Festival hat angedeutet, in Verhandlungen mit den Regierungen deren beider Heimatländer zu stehen, um die eintägige Ausreise nach Cannes zur Vorstellung ihrer Filme im Offiziellen Wettbewerb zu ermöglichen. Ob dies auch wirklich in die Tat umgesetzt wird, ist indes sehr zweifelhaft.
Auch der diesjährige Abschlussfilm des Festivals THE MAN WHO KILLED DON QUIXOTE (2018) von Terry Gilliam, an dem der Regisseur beinahe 20 Jahre lang arbeitete, sorgte im Vorfeld für einen Eklat. Infolge eines noch anhängigen Rechtsstreits, der von einem der Produzenten des Films lanciert wurde und auf ein Aufführungsverbot zielt, war und ist die endgültige Premiere des Werks am 19. Mai immer noch unklar. Künstlerisch ist von dem Film anhand dessen Trailers indes nichts zu erwarten.
Schließlich kehrt der Däne Lars von Trier nach seiner umstrittenen Pressekonferenz zu MELANCHOLIA (2011) im Jahr 2011 und der Aufhebung seines daraufhin erteilten Status als persona non grata mit THE HOUSE THAT JACK BUILT (2018) in die Offizielle Selektion zurück. Der Film, in dem Matt Dillon einen Psychopathen und Massenmörder mimt, soll von Triers ANTICHRIST (2009) an Blutrünstigkeit noch überbieten. Auf diese Weise ist aber wieder nur billiges und sinnloses Skandalkino für schlechte Geschmäcker zu gewärtigen.

Erwartungen und Highlights

Die großen filmischen Werke werden von Matteo Garrone mit DOGMAN (2018), Nuri Bilge Ceylan mit THE WILD PEAR TREE (2018), Eva Husson mit LES FILLES DU SOLEIL (2018) und möglicherweise auch Asghar Farhadi mit EVERBODY KNOWS (2018) und Alice Rohrwacher mit LAZZARO FELICE (2018) ersehnt. Namentlich Ceylan wartet nach seinem Palmengewinner WINTERSCHLAF (2014) am vorletzten Tag des Festivals wieder mit einem über dreistündigen Werk des poetischen Realismus auf.
Unter den drei Frauen im Offiziellen Wettbewerb – der Französin Eva Husson, der Libanesin Nadine Labaki und der Italienerin Alice Rohrwacher – wird namentlich das Werk Hussons mit Spannung erwartet, nachdem es – sehr untypisch und gegen die Festivalmanier – von Frémaux bereits hochlobend angepriesen worden ist. Husson erzählt in LES FILLES DU SOLEIL (2018) von einer Gruppe Widerstandskämpferinnen, die ihr kurdisches Heimatdorf von Extremisten befreien wollen.
Unter den für Cannes so obligaten Stars finden sich für die Regenbogenpresse dieses Jahr Namen wie Martin Scorsese, Christopher Nolan, John Travolta und Gary Oldman, die allesamt Masterclasses abhalten werden. Schauspielerisch werden Javier Bardem, Penélope Cruz, Adam Driver, Matt Dillon und Jake Gyllenhaal über den roten Teppich schreiten. Neben den filmisch-ästhetischen Meisterwerken, auf die in Cannes jährlich zu vertrauen ist, und den notwendigen Glamourallüren wird abzuwarten sein, wie sehr sich das Festival in und durch seine Filme politisch präsentieren wird. So werden jedenfalls Spike Lee in BLACKKKLANSMAN (2018) die derzeitig wieder so virulente Rassenfrage in den USA und Stéphane Brizé in EN GUERRE (2018) die Arbeiterfrage in Frankreich stellen.

Fazit

Die 71. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Cannes 2018 wird berechtigter- und notwendigerweise im Lichte der Frauen stehen. Nach vielen Jahren maskuliner Dominanz warten Jury und Wettbewerb nun wieder mit einer zumindest etwas gesteigerten Prominenz des weiblichen Geschlechts auf. Neben den ewigen Cannes-Enfants Ceylan, Garrone, Godard und von Trier wird auch dieses Jahr wieder besonderes Augenmerk auf die acht Debütwerke noch junger Nachwuchskünstler zu legen sein. Vieles spricht dafür, dass das Festival den Bann der niedrigen filmischen Qualität des letzten Jahres zu brechen vermag.

by ehemaliger Mitarbeiter
Photos © Festival de Cannes + FDC