Filmwertung: |
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| 9/10 |
Wer ist nicht schon mal abends an den Häusern der Anderen vorbeigegangen, hat Licht in Räumen und Menschen in Interaktion gesehen und sich gefragt, wie diese Menschen wohl leben mögen. In besonderem Maße kann einem diese Frage in wohlsituierten Gegenden und bei Leuten, die dem äußeren Anschein nach die Glücklichsten auf der ganzen Welt sind, in den Sinn kommen. Doch die wenigsten von uns werden es schon mal darauf anlegt haben, in diese Häuser zu gelangen und Teil des täglichen Ablaufes in diesen Familien zu werden, sei es um die heile Welt zu enttarnen oder einfach nur der Hausherrin sukzessive an die Wäsche zu gelangen.
Lehrer Germain (Fabrice Luchini) verzweifelt an seiner neuen Klasse. Als er ihnen die Aufgabe stellt, einen Aufsatz über ihre Erlebnisse am letzten Wochenende zu verfassen, muss er feststellen, dass die Teenager mit den großen französischen Schriftstellern wenig am Hut und auch bei simpler Alltags-Prosa wenig zu bieten haben. Als er mit seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) die Ergebnisse sichtet, macht sich Ernüchterung breit, denn über viel mehr als Pizza und Fernsehen haben die meisten nicht zu erzählen. Dann stößt er auf den Text von Claude (Ernst Umhauer), einem bislang eher unauffälligen Schüler aus der letzten Reihe, dessen geschliffene Sprache und detaillierte Ausgestaltung hervorsticht. Der introvertierte Junge schreibt, dass er es am Wochenende geschafft habe, seinen Mitschüler Raphael (Bastien Ughetto) in dessen Haus zum Lernen zu besuchen und dies ein Umstand sei, den er schon lange beabsichtigt hatte.
Germain spornt Claude an, seine Geschichte fortzusetzen und gibt im fachlichen Rat, wie er sie spannender gestalten könne. Mit seinem hohen Maß an Beobachtungsvermögen und auch einem starken Hang zum Voyeurismus in seinen Texten hat es Claude geschafft, seinen Lehrer in den Bann zu ziehen, und selbst dessen Ehefrau Jeanne ist vom Talent des Jugendlichen überzeugt. In den weiteren Episoden gerät dann Raphas attraktive Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) in den Mittelpunkt. Und während Germain sich für die scheinbar literarischen Fortschritte seines Schülers begeistert, wird Jeanne ob der immer detaillierteren und authentischen Beschreibungen des Jungen zunehmend besorgt. Die Fortsetzung des Aufsatzes scheint unvorhersehbare Ereignisse ins Rollen zu bringen.
Basierend auf der Romanvorlage "Le garçon du dernier rang (Der Junge in der letzten Reihe)" des Spaniers Juan Mayorgas hat der französische Regisseur François Ozon mit "Dans la maison - In ihrem Haus" keinen Psycho-Thriller, sondern einen psychologischen Thriller inszeniert. Neben echten Profis des französischen Kinos wie Fabrice Luchini, Emmanuelle Seigner und der britischen Wahl-Französin Kristin Scott Thomas hat Ozon die Schlüsselfigur des 16jährigen Claude mit dem 21jährigen Ernst Umhauer besetzt, weil er keinen jungen Mann entsprechenden Alters gefunden hat, der die nötige Reife für diese anspruchsvolle Rolle vorzuweisen hatte. Bei der Weltpremiere auf dem Toronto International Film Festival wurde der 9,2 Millionen Euro teure Film bereits mit dem FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik geehrt.
Seit Filmen wie "Unter dem Sand" und "Swimming Pool" kann François Ozon getrost als der Feingeist unter den europäischen Regisseuren mit einem besonderen Gespür für die Abgründe der menschlichen Psyche bezeichnet werden. Der Präzision in der Umsetzung dieses sich auch mit schulischer Bildung befassenden Stoffes dürfte der Umstand, dass Ozons Eltern selbst Professoren waren, förderlich gewesen sein. Die Handlung, deren Ursprung von einer zu Schuluniformen zurück gekehrten Vorzeigeschule ausgeht, lebt auch den heutzutage fast zu einem Traum gewordenen Ansatz, dass zumindest ein junger Mensch mit hohem intellektuellen Anspruch einer am Wochenende nur herumgammelnden Schar von Schülern entspringt. Umso heller leuchtet der Stern von Claude mit seinem schriftstellerischen Talent. Und die zwischen Realität und Fiktion hin und her springende Geschichte dürfte jeden Theaterdramaturgen mit der Zunge schnalzen lassen. Claude manipuliert sein Umfeld, entwickelt die Handlung seines Aufsatzes im Kreise der Familie seines Freundes in deren Haus und offeriert sie dann seinem Lehrer und dessen Frau als Fortsetzungsroman. Und wie sein Lektor Lehrer Germain selbst für eine gelungene Handlung idealisierte, hat auch diese Geschichte ein unerwartetes und überraschendes Ende, das einem aber als das einzig richtige erscheint.
"In ihrem Haus" ist eine meisterliche Reflexion über das Lehren, den kreativen Prozess und das Wesen der Fiktion. Insbesondere ist der neue Ozon aber eine genialistische Anleitung zu literarischen Höchstleistungen und erweckt unterbewusst die Hoffnung, dass auch aus der heute die Schulbank drückenden Generationen mal der eine oder andere richtig kluge Kopf hervorgeht.
by André Scheede
Bilder © Concorde Filmverleih GmbH