Filmkritik An ihrer Stelle - Fill the Void
Filmwertung: |
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| 6/10 |
Unabhängig von seiner Qualität ist „An ihrer Stelle“ (internationaler Verleihtitel: „Fill the Void“) eine Ausnahmeerscheinung: Die israelische Regisseurin Rama Burshtein gewährt uns in ihrem ersten Spielfilm einen seltenen und intimen Einblick in eine orthodoxe chassidische Gemeinde in Tel Aviv, jenem Milieu, in dem sie selbst zu Hause ist. Dabei ist „An ihrer Stelle“ weder als politischer Film noch als Tragödie angelegt, ist weder Abrechnung noch Akt der Versöhnung. Burshtein bezieht in keinem Moment Stellung zum Handeln ihrer Figuren, sie hält es nur fest; das ist die Stärke ihres Films – und zugleich seine Krux.
Die Leere ausfüllen, die Lücke schließen; dazu wird die 18-jährige Shira angehalten, als ihre Schwester am Purimfest bei der Geburt ihres Kindes stirbt. Gerade stand Shira noch kurz vor der Hochzeit mit einem von ihrer Familie vorgeschlagenen Mann, nun soll sie ihren verwitweten Schwager heiraten und dessen neugeborenem Sohn eine Mutter sein. Einerseits weiß sie, dass es für beide unmöglich bleiben wird, in dieser Ehe glücklich zu sein; andererseits steht sie unter dem Einfluss ihrer Familie: Diese zwingt sie zwar zu nichts, übt aber im Hintergrund mehr und mehr Druck aus – und es wäre vermutlich das erste Mal, dass sie ihm standhält. Burshteins Film begleitet den langen und schwierigen Prozess der Entscheidungsfindung, bewahrt dabei eine nüchterne Sicht auf das Geschehen und verzichtet auf jegliche Melodramatik. Ihr Film öffne „mit einer kleinen Geschichte ein Guckloch in eine sehr spezielle und komplexe Welt“, sagt die Filmemacherin selbst; er handele keineswegs vom religiös-säkularen Dialog, gleichwohl gehe es ihr darum, mit „unvoreingenommener Aufrichtigkeit“ eine Brücke zwischen diesen beiden gegensätzlichen Welten zu schlagen. Vielleicht ist dieser Aspekt zugleich der Schlüssel, um einen Zugang zu finden zu „An ihrer Stelle“: Film als Kommunikationsmittel, als Weg zur Verständigung. Burshtein thematisiert den Konflikt höchstens indirekt, befindet sich aber ständig auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner: In der Tragweite des privaten Dilemmas, in dem sich ihre Hauptfigur befindet, in den Momenten großer Menschlichkeit, die keine Fragen stellt, in der universellen Erzählsprache, derer sie sich bedient. Sie will den Horizont erweitern, nicht die Sehgewohnheiten.
Dahingehend ist „An ihrer Stelle“ schließlich nur bedingt zufriedenstellend; Burshtein gelingt es selten, die Nähe, die sie bei der Porträtierung dieser von Traditionen und Ritualen geprägten Kultur erzeugt, auf ihre Figuren zu übertragen. Sie öffnet lediglich das Fenster und lädt dazu ein, hindurchzusehen – welche Schlüsse man daraus zieht, ist jedem selbst überlassen. Diese Entscheidung ist ihr insofern hoch anzurechnen, als dass sie die Exklusion von allem Künstlichen bedeutet und somit der Intention des Films gerecht wird; die im Mittelpunkt stehenden inneren und äußeren Konflikte hingegen sind zwar nachvollzieh-, aber selten greifbar, selbst die Protagonistin Shira, für deren Vekörperung Hadas Yaron bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig mit dem Silbernen Löwen als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, bleibt dem Zuschauer über weite Strecken fremd.
Problematisch ist dies vor allem aufgrund Burshteins etwas zu brav geratener Inszenierung: „An ihrer Stelle“ bietet in filmischer Hinsicht kaum Reibungsfläche und fühlt sich nicht zuletzt dadurch länger an, als er tatsächlich ist.
Als behutsame Innenansicht funktioniert „An ihrer Stelle“ dennoch. Burshteins Blick auf die ultraorthodoxe Gemeinde und die Menschen, die in ihr leben, ist empathisch, ehrlich und zutiefst persönlich - vor allem aber frei von Stereotypen. Das ist es, was ihn trotz seiner Makel letztlich doch zu einem gewichtigen und sehenswerten Film macht.
by Siegfried Bendix