Fernando Meirelles
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Daten und Fakten
Geburtstag: 09.11.1955 Geburtsort: São Paulo, São Paulo, Brasilien |
zum Interview mit Fernando Meirelles
Filmographie Fernando Meirelles
Fernando Meirelles hat in folgenden Filmen mitgewirkt, als:Regisseur:

360
(2011)
Der ewige Gärtner
(2005)
Die Stadt der Blinden
(2008)Produzent:

The Great Green Wall
(2019)Interview mit Fernando Meirelles
"360" - "Unser Leben ist das Resultat von Zufall."- Regisseur Fernando Meirelles über die Dreharbeiten, Verantwortung und Zufallsbegegnungen -
Kreative Offenheit, aufmerksame Feinfühligkeit und energiegeladene Experimentierfreude. Mehrfach für den Oscar nominiert und von der ShowWest Convention 2004 als internationaler Filmemacher des Jahre ausgezeichnet. Der Name des brasilianischen Film- und Fernsehregisseurs Fernando Meirelles steht beinahe gleichbedeutend für thematischen Tiefgang und innovative Umsetzung. Was geschieht, wenn all das auf das lineare Kombinationsgenie von Drehbuchlegende Peter Morgan trifft, zeigt sich Deutschland am 09.08. 2012, wenn deren gemeinsames Projekt "360" in den Kinos anläuft. Auf dem Münchner Filmfest haben wir das Filmemachertalent Mereilles getroffen und uns von den Dreharbeiten, seiner Art des Castingprozesses und Arthur Schnitzlers "Reigen" erzählen lassen.
Wie ist das Casting für “360“ gelaufen?
Der erste Schauspieler, den ich selbst gecastet habe, war Jamel Debbouz. Ich mochte seine Arbeit immer sehr und wollte schon immer mit ihm zusammenarbeiten. Als ich dann das Skript zu „360“ las war da der muslimische Zahnarzt und ich dachte sofort: ‚Das wird Jamel!‘. Ich redete also mit den Produzenten, aber sie sagten, wir bräuchten einen wirklich gutaussehenden Mann, dieser Winzling passe da nicht, weil sich das Mädchen im Film in ihn verliebt. Aber ich sagte: ‚Das wird Jamel – er ist ein fantastischer Schauspieler!‘ und ich behielt Recht. Ein anderes Problem gab es mit dem russischen Schauspieler – Vladimir Vdovichenko. Zunächst konnten wir in Moskau keinen Casting Agenten finden. Also sah ich mir im Schnelldurchlauf russische Filme an, um mir Gesichter anzuschauen. Wenn mir jemand gefiel, sah ich den ganzen Film auf Russisch, um ihn zu beobachten. Von allen Schauspielern, die ich mir so ansah, gefiel mir vor allem Vladimir Vdovichenko. Als wir dann versuchten, ihn zu kontaktieren, war das sehr schwierig, weil er Sekretärinnen hatte und Agenten und weil er ständig arbeitete. Schließlich stellte sich heraus, dass er in Russland ein Megastar ist, doch wir schafften es, ihn ins Boot zu holen. Während wir drehten, drehte er zusätzlich in Moskau und er arbeitete wirklich hart. Er war bereit, nachts ein Flugzeug zu nehmen, um tagsüber mit uns zu drehen und um 5 Uhr wieder zurück nach Moskau zu fliegen. Er machte das ganze 3 Mal. Als wir ihn zum ersten Mal kontaktieren wollten, fragte seine Agentin, wie viel wir zahlen. Wir konnten all unsere Schauspieler nicht sehr hoch bezahlen, da sagte sie: ‚Sind Sie verrückt? Wir reden hier über Vladimir Vdovichenko! Er wird es niemals für so wenig Geld machen, vergessen Sie es einfach!‘. Sie wollte einfach nicht, dass wir mit ihm sprechen. Schließlich schafften wir es, mit ihm persönlich zu reden. Wir erzählten ihm von dem Projekt und er sagte seiner Agentin, dass er ein Teil davon sein will. Es war sehr kompliziert, aber er ist fantastisch, nicht wahr?
Absolut. Dazu ist es beeindruckend, dass die Russen in Ihrem Film tatsächlich Russen sind. In den meisten Filmen sind sie es nicht. Zumindest reden sie kein sauberes Russisch…
Ja, oft sind es Russen, die im Ausland leben, das stimmt. Auch mein Produzent wollte, dass ich mich zwischen circa 5 russischen Schauspielern entscheide, die alle in London leben. Das ist genau das – ich wollte das nicht. Vladimir Vdovichenko konnte kein Englisch, oder zumindest nur wenig, aber er ist ein so guter Schauspieler. Um mit ihm zu sprechen beschäftigten wir dann einen Übersetzer.
Wie kam die Idee, das Projekt „360“ in Wien beginnen zu lassen?
„360“ ist eine Art Adaption von Arthur Schnitzlers Stück „Reigen“, aber im Grunde ist die Tatsache, dass die Geschichte in Wien beginnt neben der Idee des Anfangscharakters, der zu allen anderen Charakteren führt, das einzige, das wir übernommen haben. Wir haben eine Prostituierte in Wien, mit der der Kreislauf beginnt. Das ganze Projekt begann also als eine Art Homage an Arthur Schnitzler. Dieses Jahr ist sein 150er Jahrestag.
Es wurde in den verschiedensten Ländern und Städten gedreht. Wie fühlt es sich an, einen derartigen Welttrip zu machen?
Für mich war es die angenehmste Filmerfahrung, die ich je gemacht habe. Es war sehr entspannt und die Crew war absolut bei der Sache. Sie wollten diesen Film einfach drehen. Und wir hatten mit Jude Law, Rachel Weisz und Anthony Hopkins ein tolles Cast. Aber auch die anderen Schauspieler sind echte Größen in ihrer Heimat. So wie das brasilianische Mädchen. Sie ist ein Superstar in Brasilien. Genauso unser russischer Darsteller – er kann in Moskau nicht auf die Straße gehen. Für mich war es also eine tolle Gelegenheit, all diese exzellenten Schauspieler zu vereinen. Zur gleichen Zeit hatte ich aber auch Angst, weil ich befürchtete, der Film könnte wie ein Kurzfilmfestival wirken. Wir haben so viele Einzelgeschichten und diese Einzelgeschichten sind so kurz, dass wir keine Zeit haben, die einzelnen Charaktere wirklich zu entfalten, um tiefer zu gehen. Deshalb hatte ich große Angst, dass der Film am Ende etwas künstlich oder einfach zu schnell wirken würde. Ich bin auch jetzt nicht sicher, ob wir das vermeiden konnten. Wir haben uns sehr bemüht, jede Geschichte mit der nächsten zu verknüpfen und interessante Übergänge zu schaffen, aber es war eine große Herausforderung so viele Stories in so kurzer Zeit zu realisieren.
Was gefällt Ihnen besonders an „360“?
Was mir am Skript zu „360“ besonders gefallen hat, waren die Charaktere. Ich habe das Skript ja nicht selbst entwickelt, ich wurde eingeladen, Regie zu führen. Was mich für den Film unterschreiben ließ, ist die Tatsache, dass alle Charaktere im Grunde gute Menschen sind, die versuchen, sich als gute Ehemänner, gute Väter oder Ehefrauen zu verhalten. Und doch ist da immer etwas in ihnen, das sie andere Wege gehen lässt. Auch ich habe in meinem Leben mehrmals eine solche Erfahrung gemacht. Ich habe die dümmsten Dinge getan und bereue das. Manchmal lässt einen irgendetwas Dinge tun, die man eigentlich nicht tun will und nicht erklären kann und das ist der Konflikt all der Charaktere in „360“. Sie tun diese Dinge, obwohl sie wissen, dass sie das nicht sollten. Ihre Leidenschaften und ihre primitiven Instinkte kämpfen gegen ihren Verstand. Es gibt in diesem Film also keine Gegenspieler zu den Protagonisten. Der Antagonist ist in uns. Wir haben etwas in uns, das uns bekämpft. Das ist der Aspekt, der mir gefiel.
In Verbindung damit scheint „360“ auch verantwortungsvolles Handeln zu thematisieren. Was bedeutet es für Sie, in unserer modernen Zeit verantwortlich zu handeln?
Wir müssen versuchen, unsere Gesellschaft zu bewahren – unsere Familie und globaler unsere Zivilisation und um das zu tun, müssen wir unsere Instinkte unterdrücken. Das ist irgendwie ziemlich langweilig, nicht wahr? Am Ende ist das eine uralte Diskussion. Es gibt da dieses Buch von Sarmiento, „Barbarei und Zivilisation“. Ihm geht es dabei genau darum, dass Unterdrückung zu Zivilisation führt. Wir unterdrücken unsere eigene Art, um uns zu entwickeln und um Ordnung zu schaffen, müssen wir Instinkte unterdrücken. Das ist eigentlich ziemlich traurig, genauso wie in der Geschichte des Zahnarztes in „360“: er verliebt sich in ein Mädchen, wenn er aber seiner Religion treu bleiben will, muss er ‚nein‘ zur Liebe sagen. 1960 hat man mit der Hippie Bewegung beschlossen, Unterdrückung abzuschaffen, aber es hat einfach nicht funktioniert. Das ist eine Art Grundkonflikt.
Abgesehen davon spielen auch Zufallsbegegnungen eine grundlegende Rolle für „360“ . Gibt es in Ihrem Leben die eine, zufällige Begegnung, die Sie niemals vergessen werden, weil sie Ihr Leben verändert hat?
Ich glaube, unser aller Leben ist das Resultat von Zufall. Von Dingen, die scheinbar ohne jegliche Kontrolle mit uns passieren. Ich denke im Grunde, dass ich heute hier sitze wegen eines Zufalls. Nach „City of God“ drehte ich „Der ewige Gärtner“ und zwar absolut zufällig. Ich spazierte mit einem Freund durch London und da saß ein Kerl in einem Cafe und trank einen Kaffee. Da rief er meinem Freund zu: ‚Hey, Donald, komm mal her!‘ Wir setzten uns also zu ihm und tranken einen Kaffee mit ihm. Mein Freund stellte mir diesen Kerl dann vor und dieser Kerl war Simon Channing Williams, ein britischer Produzent. Wir unterhielten uns und plötzlich sagte er: ‚Ich habe da so ein Skript, willst du es lesen? Eigentlich hatten wir jemanden für die Regie, aber der hat sich dagegen entschieden.‘ Wir gingen also in sein Büro, er gab mir das Skript und ich las es. Den Tag darauf trafen wir uns und ich unterschrieb für „Der ewige Gärtner“. Dadurch wurden mir später vielleicht internationale Projekte angeboten, die ich sonst nicht bekommen hätte. Womöglich ist das der Grund, aus dem ich heute hier sitze: weil dieser Kerl an genau jenem Tag in genau diesem Cafe einen Kaffee trank. Hätte er das nicht getan, wäre ich jetzt nicht hier. Ich bin sicher, dass einfach jeder derartige Dinge erlebt hat.
Ist die Kreisform von „360“ eigentlich als Metapher für den Kreis des Lebens zu sehen? Man hört da auf, wo man gestartet ist…
Tatsächlich! Das ist etwas, das mir nie aufgefallen ist, aber es stimmt...
Interview by Sima Moussavian