Filmkritik Vergiss mein Ich
Filmwertung: |
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| 6/10 |
Eine retrograde Amnesie ist eine spezielle Form der Amnesie, bei der Personen nicht mehr in der Lage sind, sich an Geschehnisse vor einem bestimmten, meist traumatischen Ereignis zu erinnern, wobei sich der Gedächtnisverlust auf einen Zeitraum vor diesem Ereignis bezieht. Ursache für diesen fehlenden Zugriff einer Person auf ihr biographisches Gedächtnis kann beispielsweise eine nicht diagnostizierte Gehirnhautentzündung sein, wie in dem Fall, den uns Regisseur Jan Schomburg in seinem neuen Film "Vergiss mein Ich" schildert.
Der von Maria Schrader gespielten Lena Ferben ergeht es so. Sie verliert sich urplötzlich und die Ärzte stellen die Diagnose einer retrograden Amnesie. Ihr Zustand verweigert der seit Jahren mit ihrem Mann Tore (Johannes Krisch) verheirateten Lena den Zugriff auf ihr Gedächtnis. Obwohl die Sprache noch vorhanden ist und sie auch um die Bedeutung der Wörter weiß, kann sie ihnen keine Erfahrung zuordnen. Lena schwebt wie im luftleeren Raum und kennt die Bedeutungen der Dinge im Kontext mit ihrem bisherigen Leben nicht, was auch für Tore eine enorme Herausforderung darstellt, der ihr jetzt versuchen muss zu vermitteln, wie sie zueinander standen. Wie nach einem Drehbuch versucht Lena die Notizen aus ihrem Tagebuch mit der Realität zu verbinden und somit wieder in die Rolle ihres bisherigen Lebens zu schlüpfen, während sie und auch ihr Umfeld merken, dass in ihr zur gleichen Zeit eine neue individuelle Persönlichkeit entsteht.
Für Regisseur Jan Schomburg ist "Vergiss mein Ich" nach "Über uns das All" von 2011 der zweite Kinolangspielfilm. Als Regisseur und Drehbuchautor der sogenannten Berliner Schule geht es auch dem 1976 in Aachen geborenen Schomburg darum, aus alltäglichen Erfahrungen gespeistes Kino fern von Sensationen zu machen und so inspirierte ihn eine Reportage über eine 40-jährige Frau mit genau einer solchen Amnesie zu seiner neuen Arbeit. Für die Rolle der Lena fand er mit der aus "Aimée & Jaguar" oder "Rosenstraße" bekannten Maria Schrader eine mehrfach preisgekrönte Darstellerin, die ihre Ausdrucksstärke auch im Theater unter Beweis stellt. Als ihr Ehemann Tore ist der österreichische Schauspieler Johannes Krisch zu erleben, der bereits im Oscar-nominierten "Revanche" die Hauptrolle spielte. Außerdem sind neben Ronald Zehrfeld ("
Barbara"), wie auch schon in Schomburgs Spielfilmdebüt erneut Sandra Hüller ("Requiem") zu sehen.
Man wähnt sich anfangs in einer verfilmten medizinischen Reportage, da es sofort mit Lenas Amnesie losgeht und ihr Umfeld erstaunlich pragmatisch mit dem Beginn dieser Situation umgeht. Dem neurologisch nicht Bewanderten mag es wie ein Overacting Maria Schraders vorkommen und man kann, ohne eine fachärztliche Beurteilung einzuholen, nur auf die Authentizität von Schomburgs Inszenierung vertrauen. Folgt man den Filmschaffenden Schomburg und Schrader dann jedoch in ihrem Stilbewusstsein, nimmt einen das Drama mit in eine nachdenklich machende Analyse der Frage, wie viel der eigenen Identität nur auf ein Funktionieren in einem gesellschaftlichen Kontext angelegt ist. Denn wie Lenas Ehemann schon sagt, sind wir doch niemals nur ICH, sondern immer WER, für irgendwen anderen. Ein wirklich ungespieltes ICH prallt auf arrangierte Wahrheiten und kann damit im echten sozialen Leben nicht funktionieren. Das zeigt Lenas gefühlsmäßige Nullstellung nach der Amnesie, die keine gesellschaftlichen Verabredungen mehr kennt. Sie erkennt nicht mehr Tagebuchnotizen, die einer Geheimhaltung bedurften oder der Geruch eines fremden Mannes steigt ihr mehr zur Nase, als der ihres eigenen. Dies macht dem Zuschauer klar, wie sehr die eigene Identität auf diplomatischem Handeln fußt und wie sehr emotionale Erbhöfe unser Leben prägen. So verkörpert Maria Schrader letztendlich äußerst beeindruckend den Zwist von "Lena spielen" und "Lena sein".
"Vergiss mein Ich" ist alles andere als federleicht und auch nur beschwerlich amüsant, wirft dafür aber nie gestellte Fragen über die Authentizität des Seins auf. Ausgelöst durch einen neurologischen Befund.
by André Scheede
Bilder © RealFiction Filmverleih