Filmwertung: |
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| 9/10 |
Die Dovers und die Birchs sind zwei prototypische US-amerikanische Familien, die in einer Kleinstadt in Pennsylvania leben und gemeinsam Thanksgiving verbringen. Die Stimmung ist ausgelassen, bis Anna und Joy – die jeweils jüngsten Familienmitglieder – plötzlich ohne jede Spur verschwunden sind. Alles deutet darauf hin, dass der geistig zurückgebliebene Alex die beiden Mädchen entführt hat – doch wegen Mangels an Beweisen kommt der junge Mann wieder frei. Annas Vater sieht daher keinen anderen Ausweg, als den mutmaßlichen Entführer in seine Gewalt zu bringen, um mit brutalen Methoden Antworten zu erhalten und die Kinder zu retten. Der mit den Ermittlungen betraute Detective Loki macht derweil allerdings ein paar erschütternde Entdeckungen…
Der Kanadier Denis Villeneuve hat bereits mit „Die Frau, die singt“ (OT: „Incendies“) ein Werk zum Mit- und Nachdenken geschaffen – und auch sein erster US-Film fordert den Zuschauer heraus und wirkt noch lange nach. Das spannungsreich umgesetzte Drehbuch von Aaron Guzikowski ist von Ambivalenz durchwoben und wirft – jenseits einfacher Gut-Böse-Schemata – ethische und moralische Fragen auf: Welche Gesetze darf man brechen, um Leben zu retten? Wann verliert ein Mensch seine Grundrechte? Und – diese Frage ist die quälendste – wie würde man sich als Familienvater bzw. -mutter wohl selbst verhalten? Villeneuve und Guzikowski nutzen das Krimi-/Psychothriller-Szenario, um Themen wie „Schuld(zuweisung)“ oder „Selbstjustiz“ zu behandeln und die Abgründe der menschlichen Natur auszuloten. Die Inszenierung ist dabei – trotz einiger drastisch-verstörender Momente – nicht reißerisch.
Der Tiefgang des Buchs geht mit einer klugen Konstruktion der Geschichte einher: Die vielen Drehs und Wendungen, die genommen werden, sind hier keineswegs Selbstzwecke, die den schweren Stoff unterhaltsamer machen sollen, sondern erweisen sich – alle! – als wohldurchdacht. Die Verschränkung von Genre-Erzählung und filmischer Verhaltensanalyse macht „Prisoners“ zu einem Mainstream-tauglichen Arthouse-Werk, das obendrein in der Kameraarbeit (von Roger Deakins) überzeugt: Die Herbst-Ästhetik evoziert Kälte; immer wieder regnet es in bester David-Fincher-Tradition.
Erwähnung verdient natürlich das engagierte Schauspiel. Hugh Jackman verkörpert Keller Dover, einen religiösen, konservativen Mann, der mit dem Fortgang der Geschehnisse zu immer heftigeren Mitteln greift. Der Darsteller fühlt sich erkennbar in die tiefe Verzweiflung dieser Figur – die kaum zum Sympathisieren einlädt – ein. Nicht minder beeindruckend ist die Interpretation von Jake Gyllenhaal: Welche Hintergrundgeschichte der tätowierte, unausgeschlafen wirkende Polizist Loki hat, erfährt man nicht – und doch macht Gyllenhaal ihn (in erster Linie durch Blicke) zu einem individualisierten Charakter und zu einem interessanten Gegenpart zu Keller Dover. Maria Bello als Kellers Frau sowie Terrence Howard und Viola Davis als das Ehepaar Birch agieren als solide Nebendarstellerriege und zeigen in ihren Auftritten glaubwürdig auf, was die Entführung des eigenen Kindes – neben der Raserei von Keller Dover – aus einem Menschen machen kann: Grace Dover verfällt in einen depressionsartigen Zustand; Franklin und Nancy werden zu Mitwissern der fragwürdigen Tat von Keller – und schweigen. Gar nicht genug Positives kann man außerdem über den begabten Paul Dano („There Will Be Blood“) sagen, dessen Performance als Alex sich tief ins Gedächtnis eingräbt.
Fazit: Dieser Film ist eine Extremerfahrung! Ein Werk von großer Wucht – anspruchsvoll geschrieben und inszeniert, überdies schmerzhaft intensiv gespielt: Jackman, Gyllenhaal und Dano erbringen Top-Leistungen.
by Andreas Köhnemann