Filmwertung: |
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| 9/10 |
Es wäre ein heikles Thema, das Seelenleben der Täterkinder des faschistischen Deutschland von 1945 in einem Film zu verarbeiten, die nach Kriegsende ohne Eltern da standen und abrupt aus ihrem Weltbild gerissen wurden, wäre man ein deutscher Regisseur und würde man seine Protagonisten auch nur mit einem Fünkchen Empathie darstellen wollen. Wohl deshalb war es mit Cate Shortland eine Australierin, die sich mit ihrem Film "Lore" dieser interessanten Innenansicht nähert und damit das Buch "Die dunkle Kammer" der britischen Schriftstellerin Rachel Seiffert adaptiert.
Wir schreiben das Jahr 1945 und Deutschland steht vor den Scherben des verlorenen Krieges. Lore (Saskia Rosendahl) ist mit ihren 15 Jahren für sich und ihre vier jüngeren Geschwister (Nele Trebs, Mika Seidel und André Frid) verantwortlich, da ihre Eltern (Ursina Lardi und Hans-Jochen Wagner) als ranghohe Nationalsozialisten festgenommen wurden. Gemeinsam müssen sich die Kinder bis in den Norden Deutschlands zum sicheren Hof ihrer Großmutter (Eva-Maria Hagen) durchschlagen. Doch der Weg durch die Sektoren der Alliierten ist lang und voller Gefahren. Kälte und Hunger setzen Lore und ihren Geschwistern zu. Als sie auf ihrem Weg durch die Wälder auf den jüdischen Flüchtling Thomas (Kai Malina) treffen, kollidiert Lores durch ihre Eltern geprägtes Weltbild mit der Wirklichkeit, denn gerade Thomas ist es, der sie und ihre Geschwister mit seinen Papieren an den amerikanischen Kontrollen vorbeibringt.
Die australische Regisseurin Cate Shortland liefert acht Jahre nach ihrem weltweit preisgekrönten Spielfilm-Debüt "Somersault" nun mit dem Drama "Lore" ihren zweiten aufsehenerregenden Film ab. Dabei stellt sie erneut ihr außergewöhnliches Gespür für jugendliche Darsteller unter Beweis, denn nachdem sie 2004 für "Somersault" die inzwischen weltbekannte Abbie Cornish entdeckte, zaubert sie nun für "Lore" die 19jährige Hallenserin Saskia Rosendahl aus dem Hut. Dieser herausragenden Titelfigur, dem weiteren Schauspielergespann um den schon durch "Das weiße Band" bekannten Kai Malina, einer überaus begabten Künstlerin als Regisseurin und einem hochtalentierten Adam Arkapaw hinter der Kamera ist es unter Anderem zu verdanken, dass "Lore" solche Aufmerksamkeit erregt (Publikumspreis Locarno Film Festival 2012, Hessischer Filmpreis 2012) und von Australien ins Rennen um den Oscar 2013 als bester nicht-englischsprachiger Film geschickt wird.
Wo auch immer Cate Shortlands neues Werk schon gezeigt wurde, erklangen Lobeshymnen, auf die jeder Filmkenner mit Sinn für das ästhetische Kino einstimmen muss. Der Film erzählt klug und spannend, in visionären, großen, manchmal schroffen, manchmal märchenhaften Kinobildern von einer gefährlichen Reise in einem Nachkriegsdeutschland, in dem Gesten der Menschlichkeit rarer sind, als ein Stück Brot. Die inneren Kämpfe der Figuren werden verstörend und bewegend dargestellt, wobei Lores Seelenlandschaft in einer Mischung aus Gewissheiten und Zweifeln besonders fasziniert. Der durch seinen künstlerischen Gestaltungswillen brillierende Film mit einer Passion für suggestive Metaphern, zeigt die Rohheit und auch die Gefühle von Lore mehr in der Andeutung, als im manifesten Ausbruch und verstärkt dadurch die Atmosphäre. Die Geschichte eines aus seinem sozialisierten Wertesystem gerissenen Kindes im Prozess der Entnazifizierung wurde so noch nie im Kino beleuchtet, und man denkt unwillkürlich an die Erzählungen der eigenen Großeltern, die stets so wenig glaubhaft schilderten, dass sie Bilder von vergasten Juden nie vor dem Kriegsende gesehen haben und dies bis lange nach dem Ende auch für eine Inszenierung der Amerikaner hielten.
Cate Shortlands "Lore" ist ein lyrisches, tief bewegendes und kunstvolles filmisches Meisterwerk, das schmerzvolle geschichtliche Erinnerungen beleuchtet, aber nie auch nur im Ansatz ein Statement abgibt, dass die Antennen politisch Überkorrekter auf Empfang schalten müssten.
by André Scheede