Filmwertung: |
 |
| 9/10 |
Gerade einmal knapp über drei Jahre ist es her, als der heimtückische Bombenanschlag beim Boston Marathon eine Stadt und die ganze Welt erschütterte. Nun hat man sich bereits an eine filmische Aufbereitung der Ereignisse getan, was sicher für manchen Zuschauer die Frage aufwirft, ob es nicht etwas zu früh hierfür ist – nicht unähnliche Stimmen kamen damals auch bei Paul Greengrass „Flug 93“ auf, der die Anschläge vom 11. September thematisierte.

Regisseur Peter Berg, der gerade erst vor kurzem die Katastrophe der Ölbohrinsel „
Deepwater Horizon“ minutiös im gleichnamigen Film geschildert hat, kreiert nun mit „Boston“ (OT: „Patriots Day“) eine weitere nervenzerreißende, pulsschlagerhöhende Chronik einer amerikanischen Tragödie. Berg, der auch zuvor schon in „Lone Survivor“ seine Fähigkeiten als brillanter Beobachter von Menschen in Extremsituationen unter Beweis stellte, liefert mit „Boston“ wohl sein bisheriges Meisterwerk: Ein unglaublich intensives, vibrierendes, aufregendes, mitreißendes und letztlich unter die Haut gehendes Thriller-Meisterwerk, das ein einmaliges Gefühl von Authentizität, Realität und atemloser Dringlichkeit erzeugt. Berg erzeugt ein förmlich greifbares Mittendrin-statt-nur-dabei-Gefühl voller nervöser Energie, das einen von der ersten Sekunde packt und bis zum Schluss nicht mehr los lässt. Zugleich ist „Boston“ aber auch eine schallende, schmalos offen patriotische Hymne an menschlichen Zusammenhalt und Heldentum, insbesondere aber an die Stadt Boston und seine Bürger.
Wer erwartet, dass „Boston“ tatsächlich zu früh erscheint und lediglich ein tragisches Ereignis ausbeutet, um schnell Geld zu verdienen, wird früh feststellen, dass er falsch liegt. Wie auch schon in seinen präzise beobachteten vorigen Filmen, insbesondere dem College-Football-Drama „Friday Night Lights“, dem Kriegsdrama „Lone Survivor“ oder dem vor ein paar Monaten erschienenen „Deepwater Horizon“ ist Berg wie nur wenige andere speziell an der respektvollen Beobachtung von Menschen interessiert, sei es in Alltagssituationen oder in ihrer professionellen Umgebung – alles geschildert mit großer Wahrhaftigkeit und einer scharfen Beobachtungsgabe. Berg huldigt gewöhnlichen Menschen mit seinen Filmen, ihrer Fähigkeit Gutes zu tun, über sich selbst herauszuwachsen. Bergs zutiefst humanistischer Ansatz spiegelt sich auch umgehend in „Boston“ wieder: Mit Tobias Schliesslers intensiver und intimer Handkamera unterlegt von den sphärischen Klängen der Oscar-Gewinner Trent Reznor und Atticus Ross folgt er zahlreichen Figuren, die an diesem 15. April im Jahr 2013 mit dem feigen Anschlag der beiden tschetschenischen Brüder auf die eine oder andere Weise in Berührung kamen.

Im Mittelpunkt steht Boston Police Department Sergeant Tommy Saunders (Mark Wahlberg), eine fiktive Figur, die aber aus mehreren realen Persönlichkeiten zusammengefügt wurde. Saunders ist an besagtem Tag direkt an der Ziellinie vor Ort, an dem die beiden Sprengsätze explodiert sind und wird im weiteren Verlauf des Films der zentrale Charakter sein. Wahlberg zeigt hier eine seiner bisher stärksten Leistungen, gerade ein emotionaler und tränenreicher Zusammenbruch sollte auch für den letzten Zweifler Beweis dafür sein, dass Wahlberg schon längst seinen Status als einer der ernstzunehmenden Schauspieler seiner Generation verdient hat. Er liefert hier eine angenehm zurückhaltende und sehr menschliche Performance eines gewöhnlichen Mannes und nicht die eines stereotypischen Action-Helden.
Berg schildert den Ablauf des Tages aus der Sicht verschiedener Figuren und springt zwischen ihren Perspektiven umher: Da wäre Carol Saunders (Michelle Monaghan), Tommys Ehefrau; das junge Ehepaar Jessica Kensky (Rachel Brosnahan) und Patrick Downes (Christopher O’Shea), der junge Cop Sean Collier (Jake Picking), der Geschäftsmann Dun Meng (Jimmy O. Yang) und Watertown Police Sergeant Jeffrey Pugliese (J.K. Simmons). All diesen Figuren folgt Berg in ihrer alltäglichen Umgebung, sowohl privat als auch beruflich, zeigt sie in ganz normalen und auch intimen Momenten, die sehr eingelebt und realistisch wirken. So grundiert Berg das Geschehen stark, man bekommt ein greifbares Gefühl dieser Stadt und seiner Einwohner, kann die lokale Atmosphäre förmlich riechen. Zugleich verliert der Film trotz zahlreicher Figuren nie seinen erzählerischen Fokus.
Auch die beiden Brüder Dzhokhar (Alex Wolff) und Tamerlan Tsarnaev (Themo Melikidze) zeigt Berg in ihrer scheinbar ganz normalen häuslichen Umgebung, das einzige, was dieses trügerische Bild stört, ist die beklemmend nebensächlich wirkende Tatsache, dass Tamerlan zu seinen Frühstücks-Cerealien Videos von Dschihadisten schaut, während seine Tochter mit seiner Ehefrau Katherine Russell (Melissa Benoist) durch die Wohnung tollen.

Langsam zieht Berg die Spannungsschrauben an, man weiß, was passieren wird, ist aber trotzdem oder gerade deswegen ungemein angespannt. Wenn die Bomben schließlich hochgehen, wird man tatsächlich kalt erwischt, die Explosionen sind ohrenbetäubend, die allgegenwärtige Panik überträgt sich auf den Zuschauer. In einem chaotischen Inferno, das unglaublich real wirkt, inszeniert Berg aus einer Mixtur von Film-, TV-Aufzeichnungen, Actioncam- und Überwachungskamera-Aufnahmen ein Panoptikum des Grauens und der Zerstörung. Hektische und schmerzhaft realistisch wirkende Bilder zeigen Wunden und Verletzungen (ohne je darauf zu verharren), panische Gesichter im Schockzustand, teilweise liegen abgetrennte Gliedmaßen auf dem Boden. Das gänsehauterregende Geschehen wirkt fast schon zu real und man erhält kurzfristig das Gefühl, das hier vielleicht eine moralische Grenze überschritten wurde, doch Berg schaut nie zu lange hin, um den Eindruck von Respektlosigkeit zu erzeugen. Der Horror setzt sich schließlich in die Krankenhäuser fort, ohne aber je zu grafisch zu werden, viel mehr wird hier die menschliche Tragödie überdeutlich zusammengefasst. Umso schockierender wirkt dann der Kontrast bei den Tsarnaevs, die wieder Zuhause ganz nüchtern vor den Nachrichten sitzen und kommentieren, dass sie die Sprengsätze höher positioniert hätten müssen, um effektiver zu sein.
Infolge dessen zeigt Berg sein Können im packenden und akkuraten Schildern von Arbeitsprozessen: Der Tathergang wird rekonstruiert, verschiedene Bostoner Offizielle von Polizei und Regierung kommen zusammen, um zu ermitteln, schließlich erscheint auch das FBI in Form von Special Agent Richard Deslauriers (Kevin Bacon). In einer riesigen Halle wird die komplette Straße rekonstruiert, in der der Anschlag geschehen ist, viele Techniker arbeiten auf Hochtouren daran, Überwachungs-Material auszuwerten, um Verdächtige ausfindig zu machen. Immer wieder blendet Berg Namen und Position der auftretenden Figuren ein, aber auch von Orten und der Zeit nach der Explosion. Die Verdächtigen sind schnell ausgemacht und es wird eine noch nie dagewesene Großfahndung eingeleitet, bei der Boston und Umgebung dicht gemacht wird.
Hier geht es zwar um reale Ereignisse, die hinlänglich bekannt sind, dennoch sollte nicht allzu viel über den Ablauf des dritten Aktes des Films verraten werden. Hier erreicht „Patriots Day“ jedenfalls seinen Höhepunkt, Berg zeigt hier nicht nur, wie ganz normale Menschen heldenhaft und überaus mutig agieren, er steigert auch den Spannungslevel konstant, bis es fast unerträglich wird.

Es kommt schließlich zu einem nächtlichen, kriegsähnlichen Feuergefecht mitten im Wohngebiet in der Bostoner Vorstadt Watertown, die ohne Übertreibung wohl zu den intensivsten Kinomomenten und bestinszenierten, realistischsten und unbarmherzigsten Shootouts aller Zeiten gehört. Peter Berg erweist sich spätestens hier als einer der besten Actionregisseure der letzten Jahre, der viszerales Filmemachen so gut beherrscht wie kaum ein anderer und aktuell nur mit der Virtuosität eines Paul Greengrass und Michael Mann vergleichbar ist. Man sitzt hier regelrecht mit zittrigen Händen und Knien im Kino, jedoch hört bei dem erschreckenden Terror dieser explosiven Schießerei die Spannung noch lange nicht auf. Berg hat zudem noch eine fantastische Verhörszene in petto, bei der Tsarnaevs zum Islam konvertierte Ehefrau Katherine Russell von einer Vernehmungsbeamtin (Khandi Alexander) in die Zange genommen wird. Auch ohne Kugelhagel inszeniert Berg in dieser reinen Schauspielerszene meisterhaft filmische Intensität, wobei Khandi Alexander mit ihrem kurzen, aber unglaublich effektiven Auftritt tatsächlich den kompletten Film zu stehlen droht. Wäre Alexander (die ehemalige Tanz-Choreografin von Whitney Houston) prominenter, würde sie in einer gerechten Welt für diese Szene allein eine Oscar-Nominierung erhalten.
Berg lässt seinen Film auf einer überaus aufwühlenden Note enden, die nochmal unmissverständlich die Aussage seines Films ohne den Hauch jeder Subtilität unterstreicht. In einem bewegenden Epilog kommt eine Vielzahl der realen im Film gezeigten Figuren zu Wort, die Bostons Stolz, den Zusammenhalt unter seinen Bürgern und das Gute im Menschen zelebrieren. Für manche Zuschauer mag das sicher dick aufgetragen sein, doch Berg und seine Zeitzeugen sind nichts anderes als ehrlich und zutiefst aufrichtig. Hier geht es nicht um Politik oder um das Ergründen der Motive der Täter und damit ein tieferes Verständnis solcher verabscheuungswürdiger Ereignisse, sondern um eine selten kraftvolle, zeitgemäße und unprätentiöse Aussage, die gerade in unserer düsteren Zeit überaus relevant erscheint.
Fazit: Nach „Lone Survivor“ und „Deepwater Horizon“ liefert Peter Berg wohl sein bisheriges Meisterwerk, mit dem er sich endgültig als virtuoser Filmemacher etabliert, der Spannung und Intensität so muskulös und unbarmherzig inszeniert wie kaum ein anderer Regisseur heutzutage. Berg ist ein Meister im Erschaffen eines zutiefst authentischen Mittendrin-statt-nur-dabei-Gefühls und seine stolze Hymne an die Bürger von Boston ist hierfür ein ausdrucksstarkes Testament.
by Florian Hoffmann