Filmwertung: |
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| 8/10 |
Das Leben des berüchtigten Bostoner Gangsterbosses James „Whitey“ Bulger könnte locker mehrere Filme füllen. Bulger, der lange Zeit auf der FBI Most Wanted-Liste stand, war bereits die Inspiration für Jack Nicholsons Frank Costello in „The Departed“ und auch andere Filmemacher wie Jim Sheridan oder Ben Affleck und Matt Damon planten über die Jahre Filme über den gefürchteten Syndikatsboss der Winter Hill Gang.

Mit „Black Mass“, der auf dem gleichnamigen Buch der beiden Boston Globe Reporter Dick Lehr und Gerard O’Neill basiert, erzählt Regisseur Scott Cooper („Crazy Heart“, „Auge um Auge“) kein traditionelles Biopic, sondern wählt stattdessen einen eher kleinen Zeitraum aus Bulgers Leben und seinem Umfeld. Er zeigt den Aufstieg von Bulger ab Mitte der 70er Jahre vom kleinen Gangster aus South Boston zum größten Mafiaboss der Geschichte Bostons. Besonders interessiert ist der Film daran, wie es so weit kommen konnte. Hierfür wählt der Film die Perspektive des FBI-Agenten John Connolly, der aus derselben Nachbarschaft wie Bulger stammt. Connolly nutzte Bulger jahrelang als FBI-Informant und schützte ihn schließlich vor seinen Vorgesetzten, wodurch sich der Winter Hill Gang Boss erst frei entfalten konnte. Heraus gekommen ist ein klassisch erzählter Gangsterfilm, der sich weitestgehend nahe an den realen Ereignissen orientiert und eine angenehm realistische und dreckige Sicht auf das häufig glorifizierte Milieu der Mafia zeigt.
Das große Ass, das Cooper im Ärmel hat, ist Johnny Depp, der sich regelrecht in James Bulger transformiert. Ausgestattet mit gewaltigen Geheimratsecken, Halbglatze, nach hinten gekämmten Haaren, schlechten Zähnen und eisig blauen Augen, erkennt man Depp kaum wieder. Mit dem wohl intensivsten Blick des Kinojahres und einem fast vampirartigen Aussehen ist Depp schon eine bemerkenswerte und überraschende Erscheinung. Doch auch innerlich hat sich der so wandlungsfähige Depp spürbar wieder einmal verwandelt und kanalisiert das soziopathische Monster Whitey Bulger in all seiner Eiseskälte auf großartige und furchterregende Weise. Hinzu kommen seine besondere langsame, leicht nasale und nuschelnde Sprechweise und der Bostoner Akzent, die sich Depp durch das Studieren von Audio-Aufzeichnungen des echten Bulger einverleibt hat (ein Treffen mit Depp hat der ehemalige Gangsterboss abgelehnt). Vollendet wird Depps aufsehenerregende Verwandlung durch seine gesamte überlebensgroße Präsenz und Körpersprache, die dem echten Bulger sehr nahe kommt. Ist Depp zu sehen, gewinnt der Film spürbar an Energie und Intensität, er agiert mit sichtlicher alles einnehmenden Hingabe und bietet eine kraftvolle, Oscar-reife Performance. Depps Klasse zeigt sich vor allem darin, dass er trotz allen Make-Ups und Eigenarten nicht zur Karikatur wird, sondern eine stets bedrohliche und unheimliche Präsenz bleibt.

Whitey Bulger gehört sicher zu den besten Rollen in Depps Karriere und ist sicher als eine Art Comeback zu sehen, nachdem er viele Zuschauer mit seinen sich teilweise wiederholenden Rollenmustern exzentrischer, stark verkleideter Charaktere enttäuscht hat. Sicher, es gab auch bodenständigere Parts wie in „The Tourist“, dem unterschätzten „Rum Diary“ oder „Transcendence“, doch Depp wirkte nur noch selten so dynamisch wie in der Vergangenheit. In „Black Mass“ darf er nun in einer beängstigenden Rolle glänzen, die ganz anders als seine bisherigen Parts ist.
Depp ist letzten Endes wohl auch das Beste an „Black Mass“, der insgesamt etwas unter den Erwartungen an einen Film über James „Whitey“ Bulger bleibt. Das mag an der Erzählung des Films liegen, denn hier geht es letzten Endes nicht speziell um Bulger, sondern, wie auch der Zusatztitel des Buches „The True Story of an Unholy Alliance Between the FBI and the Irish Mob“ andeutet, um seine Beziehung zum FBI. So ist die eigentliche Hauptfigur des Films eigentlich John Connolly, der sehr gut von Joel Edgerton verkörpert wird. Im Kern des Films steht die außergewöhnliche Milieu von South Boston – eine eng gestrickte Nachbarschaft, in der Loyalität über allem steht. So kennt Connolly den zehn Jahre älteren Bulger aus Kindestagen und wurde einmal von dem Gangster beschützt. Nun erkennt Connolly als FBI-Agent die Möglichkeit die zu dem Zeitpunkt in Boston regierende italienische Mafia-Familie Anguilo mit Bulgers Hilfe festzunageln. Widerwillig stimmt Bulger zu, denn Informanten sind in Gangster-Reihen so ziemlich die niedersten Menschen überhaupt. Doch aus der Beziehung können beide Seiten profitieren, was jedoch zunächst nicht allen Beteiligten klar ist. Die von seinem Vorgesetzten Charles McGuire (Kevin Bacon) angezweifelten Methoden zahlen sich aus, der italienische Clan wird mit Bulgers Hilfe ausgemerzt und Connolly steht als Sieger da. Doch mehr und mehr verstricken sich der Agent und sein Kollege John Morris (David Harbour) in das Umfeld von Bulger, ändern ihren Lebensstil und vertuschen Informationen, wodurch Bulger bald das organisierte Verbrechen in Boston komplett in seiner Hand hält.
Erpressung, Drogenhandel, Geldwäsche, Diebstahl, mehrfacher Mord und unzählige Mordkomplotte – das war für viele Jahre das tägliche Geschäft der Winter Hill Gang.

„Black Mass“ deckt einen Zeitraum von gut zwanzig Jahren ab und führt erwartungsgemäß eine Vielzahl von Charakteren ein, die nicht alle ausreichend beleuchtet werden können. In gut zwei Stunden bietet der Film also arg viel Material, wobei der erzählerische Fokus – die Beziehung zwischen Connolly und Bulger – immer im Mittelpunkt bleibt. Der Film wirkt in seiner Inszenierung und Tonalität durch und durch klassisch und reiht sich in das Pantheon der großen Gangsterfilmgeschichte von Warner Bros. ein. Scott Cooper hat ein großartiges Gespür für das Erschaffen starker Atmosphäre und klar komponierter und naturalistischer Bilder, wodurch der Film einen kraftvollen, aber unaufdringlichen Look hat. Wie auch schon in seinen beiden vorigen Filmen nutzen Cooper und sein Kameramann Masanobu Takayanagi analogen Film, wodurch „Black Mass“ eine schöne Textur aufweist und ein sehr plastisches Bildgefühl entsteht. Das Flair von South Boston der 70er- und 80er-Jahre wird ebenfalls sehr gut eingefangen und die dichte Atmosphäre saugt einen auf. Auch die Erzählung ist an sich packend, Connollys subtiler und ihm scheinbar kaum bewusster Wandel vom bodenständigen FBI-Agenten zum Gangster-Kohorten, dessen Verhalten immer dicker aufträgt, ist interessant erzählt. Edgertons Spiel könnte für manche stellenweise etwas ausschweifend wirken, doch begibt man sich etwas in die Materie und betrachtet den echten Connolly, wird klar, dass hier nichts übertrieben ist. Connolly ist letzten Endes ein Charakter, der eine Rolle spielt, dessen Milieu und die gefährliche Aura von Bulger von ihm Besitz ergreift. Richtig intensiv wird „Black Mass“ aber immer dann, wenn Depp zu sehen ist. Seine magnetische Performance zieht alle Blicke auf sich, man erwartet jederzeit, dass der bedächtig und fast schon leise sprechende Bulger explodiert, jemand ein falsches Wort sagt und damit den unbändigen Zorn auf sich zieht. So kommt es zu erwartungsgemäß gelegentlichen Eruptionen heftiger Gewalt, die im Kontext des dargestellten Milieus schon fast selbstverständlich wirken. Nachdem Bulger etwa eine Frau erwürgt, die eine potentielle Gefahr für sein Unternehmen darstellt, sagt er nur zu seinen Kollegen, dass er jetzt ein Nickerchen macht. Cooper inszeniert die Gewalt ohne jede Glorifizierung, sondern hässlich und dreckig.
„Black Mass“ ist ein guter Film. Dennoch gibt es einige Schwächen, die verhindern, dass Cooper hier ein wirklich großer Film gelingt. Zum einen sind da die Figuren: Connolly ist wohl letztlich der rundeste Charakter, doch viele der Figuren, auch Bulger, bleiben eher unklar gezeichnet.

Was das Monster antreibt, bleibt eher dem Zuschauer überlassen, jedoch gehen auch manche der Nebenfiguren etwas unter. Kevin Weeks (Jesse Plemons), Bulgers rechte Hand, wird zu Beginn des Films als scheinbar wichtige Figur aufgebaut, später ist er jedoch nicht viel mehr als Beiwerk. Lindsey Cyr (Dakota Johnson), Bulgers Frau und Mutter seines Sohnes, hat einige wichtige Momente, die gewissermaßen als Katalysator für Bulgers Verhalten dienen, sie verschwindet jedoch schon recht früh von der Bildfläche. Catherine Greig, Bulgers langjährige Freundin, wird im Film nicht mal erwähnt, Szenen mit ihr (verkörpert von Sienna Miller) wurden aber gefilmt. Überhaupt erhält man das Gefühl, das viel Material es nicht in den Film geschafft hat. „Black Mass“ erzählt seine Geschichte durchaus fokussiert und spannend, doch am Ende fehlt einfach etwas, man möchte noch mehr sehen. Gerade wenn man sich mit der Thematik etwas beschäftigt, stellt man fest, dass der Film eher an der Oberfläche bleibt. Wie Bulger zu so großer Macht in seiner Organisation kam, wie die internen Abläufe waren, das lässt der Film offen. Hier geht es letztlich mehr um die Korruption innerhalb des FBI und weniger um ein Portrait von Bulger selbst. Seine Geschichte bietet viel Potential, das vielleicht andere Filmemacher noch erforschen werden. Dennoch: „Black Mass“ bietet eine faszinierende und packende Story, die in atmosphärische Bilder getaucht ist und angenehm unsentimental und klischeefrei erzählt ist. Das Genre des Gangsterfilms und seiner innewohnenden Themen wurde schon häufig von vielen großen Filmemachern behandelt, aber eben auch oft von weniger guten Regisseuren schlecht und ohne Stil kopiert. „Black Mass“ gehört fast der ersten Kategorie an und ist ein selbstbewusster und eleganter Genrevertreter, der etwas mehr Tiefe vertragen hätte, aber letztlich vor allem durch seine hervorragende Darstellerriege, allen voran Johnny Depp, getragen wird.
Fazit: Ein sehr kompetent inszenierter und packender Gangsterfilm mit viel Atmosphäre und einem überragenden Johnny Depp, der eine seiner besten Karriereleistungen zeigt. Obwohl die Story sehr gut erzählt ist, hat man das Gefühl noch mehr sehen zu wollen, denn die wahre Geschichte um James „Whitey“ Bulger bietet genug Potential für mehrere Filme.
by Florian Hoffmann