Filmwertung: |
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| 8/10 |
Mit „45 Years“ gelingt Regisseur Andrew Haigh ein feinfühliger, ruhiger Film über eine langjährige menschliche Lebensgemeinschaft und die Schwere des Alterns, über das Nicht-akzeptieren-wollen, dass man nicht mehr jung ist. Der Film ist nur im weitesten Sinne ein Beziehungsdrama, denn dieser Begriff impliziert hier fälschlicherweise Dramatik oder sogar Theatralik, die in Haighs Film prinzipiell völlig abwesend sind.

„45 Years“ ist viel mehr ein stiller, beobachtender Film, der auf naturalistische Weise die Komplexität menschlicher Vertrautheit in subtilen Gesten und Unausgesprochenem untersucht. Das ist alles angenehm unaufdringlich und subtil kraftvoll, was neben Haighs bescheidener und präziser Inszenierung vor allem an seinen beiden Altstars, den britischen Charakterdarstellern Charlotte Rampling und Tom Courtenay liegt. Die beiden Ikonen des 60er Jahre Kinos wurden für ihr tief empfundenes und nuanciertes Spiel bei der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für die beste darstellerische Leistung ausgezeichnet. Für den Goldenen Bären hat es zwar nicht gereicht, doch „45 Years“ war sicher eines der Highlights der Festspiele.
Antrieb des Films ist der anstehende 45. Hochzeitstag des im ländlichen britischen Norfolk niedergelassenen Paares Kate und Geoff Mercer. Wegen einer Bypass-Operation, die bei Geoff durchgeführt werden musste, konnte das 40. Jubiläum nicht gefeiert werden, weshalb nun ein ganz besonderes Fest geplant wird. Kate ist ehemalige Lehrerin, Geoff war im Management einer Fabrik tätig. Beide leben nun gemeinsam ruhig vor sich hin, ein Leben, bei dem die Fahrt in die Stadt schon eine Art Höhepunkt darstellt. Die eingefahrene Harmonie wird aus dem Gleichgewicht gebracht, als Geoff erfährt, dass die Leiche seiner ehemaligen Freundin Katya in einer Gletscherspalte in den Schweizer Alpen gefunden wurde. Dort ist sie bei einer gemeinsamen Expedition abgestürzt, gut 50 Jahre vor den Ereignissen des Films. Diese Nachricht rüttelt Geoff auf, scheint ihn mehr zu beschäftigen, als Kate lieb ist. Obwohl diese Beziehung vor Kates Zeit war, kommt langsam so etwas wie Eifersucht und Zweifel in Kate auf, die ihre Sicht auf ihr gesamtes Leben zu verändern droht.
Vergleiche zu Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“, Michael Hanekes „Liebe“ oder den britischen Sozial-Realismus-Studien von Mike Leigh und Ken Loach kommen unweigerlich auf, wenn man sich „45 Years“ betrachtet.

Am ehesten passt wohl die Gegenüberstellung zu Mike Leighs Werken, der überraschend große Weisheit aus „Kitchen Sink“ Filmen über einfache Leute wie etwa in „Another Year“ (der auch von einem alternden Ehepaar handelt) bezieht. „45 Years“ ist ein Film, der größtenteils zwischen den Zeilen stattfindet, bei dem tief liegende, versteckte Emotionen oft nur ganz subtil, aber unverkennbar über Körpersprache und Ausdruck vermittelt wird. Seinen Realismus bezieht der Film ganz bewusst ohne jede Form von Stilisierung, von konsequent filmmusikloser Inszenierung und teils sehr langen, ununterbrochenen Einstellungen, die zum genauen Beobachten von menschlichen Nuancen und Details einlädt. Das ist alles betont unaufgeregt, im Fokus steht fast ausschließlich das Paar, Interaktion mit anderen Menschen ist eher selten. Gespräche mit Anderen wirken oft fast wie Störfaktoren im Leben der Beiden, die sich so sehr an sich gewöhnt zu haben scheinen, dass außerhalb ihrer Beziehung kaum noch Leben stattfindet. Nur nach und nach offenbart der Film die Charaktere, verzichtet wie erwähnt auf expositionsartige Erklärungen, lässt die Dinge naturalistisch entstehen. Gebrochen werden die vielen Innenraumszenen von sehr hübschen und atmosphärischen Aufnahmen von der oft nebligen, weitläufigen Idylle der Landschaft um Norfolk.
Filme übers Alterwerden laden oft zur eigenen Reflektion ein. Interessant an „45 Years“ ist die Tatsache, dass er von Menschen handelt, die eben nicht senil sind, sondern geistig noch im Grunde voll im Leben stehen. Wie schon in der tonal eigentlich grundverschiedenen Hollywood-Komödie „Last Vegas“ (2013), beschäftigt sich der Film mit Figuren, die sich eigentlich im Kopf noch jung fühlen, es nicht recht akzeptieren wollen, dass sie mittlerweile in alten Körpern stecken. Es scheint das Gefühl vorzuherrschen, dass das Potential junger Jahre nicht richtig genutzt wurde, wodurch der Film eine recht deutliche Melancholie ausstrahlt. Aufgefangen wird dieses Gefühl durch seltenen subtilen, typisch britischen trocken Humor, der vor allem von Geoff ausgeht.

Das Paar scheint sich in einer Art leichtem Winterschlaf zu befinden, der nur von gelegentlichen kurzen Momenten des Glücks und vom Wiedererleben der Jugend gebrochen wird, etwa wenn die Beiden zum spontanen Tanz ansetzen oder sich zu lange nicht mehr versuchten Bettabenteuern ins Schlafzimmer verziehen.
„45 Years“ ist natürlich ein reifer, anspruchsvoller Film, der vordergründig im Arthouse-Bereich zu Hause ist. Man muss Geduld mitbringen für Haighs betont unspektakulären Film, der an den Feinheiten, den kleinen Details menschlicher Interaktion interessiert ist. In 93 Minuten passiert so im Grunde nicht viel, doch trotzdem wird eine Fülle an Weisheit offenbart. Das Spektakel ist das subtile, feinfühlige Spiel von Rampling und Courtenay, denen man ihre Figuren und gemeinsame Vertrautheit zu keiner Sekunde anzweifelt. So bezieht der Film eine subtile Kraft, die sich in einem einfühlsamen und bewegenden Finale entlädt, das auf einem ambivalenten und kraftvollen Schlussbild endet. Sicher ein ganz besonderer Film, der durchaus nachwirkt.
Fazit: Ein einfühlsamer und stiller Film über die Komplexität menschlicher Beziehungen, der viel über Blicke und Körpersprache erzählt, statt Dinge auszusprechen. Subtil kraftvoll und natürlich gespielt von den großartigen Akteuren Charlotte Rampling und Tom Courtenay.
by Florian Hoffmann