Filmwertung: |
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| 8/10 |
Inspiriert von Arthur Schnitzlers 100 Jahre altem Theaterstück „Reigen“ lässt „360“ einen modernen Spielfilm mit traditionell dramatischen Formen erwarten. Schnell aber stellt sich heraus, dass Regisseur Mereilles mehr mit Theatertradition bricht als dass er sich an ihr orientiert. Die traditionelle Einheit des Ortes bricht er vollständig auf: in 6 verschiedenen Ländern - Deutschland, Frankreich, Österreich, England, Amerika, Slowakei - spielt sein zweistündiges Werk. Nicht viel anders steht es um das Verbot der Personeneinführung nach der Exposition: durch die Vielzahl ganzer 11 Protagonisten ist eine Exposition in jenem Sinne kaum vorhanden, vielmehr befindet sich der Zuschauer direkt in medias res. Und doch richtet Mereilles sich bei all der Anpassung an die Moderne mit theaterähnlicher Strenge nach dem Gesetz der Personenkette und dem der einheitlichen Zeit. Wer nun ein wirres Chaos aus Moderne und Antike erwartet, der liegt vollständig daneben: ganz offensichtlich funktioniert Mereilles Arbeitsweise, denn selten sah die Welt einen dichteren, synchroneren und kausal enger verknüpften Handlungszusammenhang als den, den „360“ eröffnet.
Verbunden durch den thematischen Universalklebstoff der alles verändernden Zufallsbegegnung errichtet das Drama eine erzählerwechselnde Kollektivmetadiegese von Geschichten innerhalb einer Geschichte, die zu wieder anderen Geschichten führen. In 7 genauso engen wie rasant fortschreitenden Handlungssträngen zeichnet sich unterdes ein zeitloses Portrait der Menschlichkeit, welches uns im selben Maße vertraut erscheint wie es uns konstant überrascht. Anders als der moderne Spielfilm stellt uns Mereilles Werk nicht einfach Perspektiven auf die gleiche Grundsituation vor, bei seinen Handlungssträngen handelt es sich vielmehr um vollkommen eigenständige und thematisch dennoch eng verwandte Kurzgeschichten. So kollidieren die verschiedenen Erzählungen gegen Ende nicht miteinander, stattdessen liegt ihnen eine konzeptuelle Kreisform zu Grunde, die den Zuschauer über figurenbasierte Szenenwechsel zu genau der szenischen Darstellung zurück führt, mit der alles begann. Um auch technisch die Handlungseinheit zurück zu spiegeln, dienen beinahe unsichtbare, szenische Übergänge und wipe-initiierte Split-Screen-Elemente. Das Resultat ist eine höchst interessante und grafisch fließende Bindung der kontradeterminierenden Einzelstränge, sodass die menschliche Entscheidungskraft zwischen Instinkt und Verstand als universaler Determinator und dynamischer Katalysator der eigenenergetischen Handlungsstruktur in Kraft treten kann.
Kurz um, „360“ macht das beinahe Unmögliche möglich: trotz seiner Fülle an Charakteren, Orten und Kurzgeschichten schafft das Drama ein interessantes, überraschendes und undurchdringbar verknüpftes Ganzes, dem der aufmerksame Zuschauer klar folgen kann, ohne den Überblick zu verlieren oder sich in seiner konzeptuellen Kreisform zu verlaufen. Mitunter ausschlaggebend hierfür sollte das bewundernswert authentische Cast des Streifens sein, dessen zielführende Darbietung in kürzester Zeit eine unmissverständlich klare und durchgehend charakterstarke Vorstellung der Einzelprotagonisten ermöglicht. Vielleicht wäre ein Ort weniger dem Publikumsverständnis genauso entgegen gekommen wie ein Charakter, ein Erzähler und mit ihm eine charakterbasierte Einzelgeschichte weniger und doch bleibt „360“ in seiner Gesamtheit ein so nie da gewesenes, beeindruckend kombiniertes und außergewöhnlich umgesetztes Meisterwerk über ursprünglich menschliche Entscheidung, Verantwortung und Zufall in der kollektiven Welt der Moderne. „Alles ist miteinander verbunden.“ – genauso wie jener Ausspruch für unsere Welt und das Leben in ihr gilt, stimmt er für das Konzept von „360“, sodass er sich schließlich zur wohl treffendsten Punch-Linie des bewegenden Streifens erhebt.
Hunderte von beeindruckend präzise arrangierten Dominosteinen sind es, die Drehbuchlegende Peter Morgan zu einem absolut synchronen Kreiskonstrukt zusammenfügen konnte. Genauso feinfühlig wie entschlossen hat Mereilles Regie Morgans Konstruktion schließlich angestoßen, um eine so selbstbewegende und eigendynamische Kettenreaktion auszulösen, dass sie auch den Zuschauer nachhaltig bewegen sollte.
by Sima Moussavian
Bilder © Prokino Filmverleih GmbH