Filmwertung: |
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Es kommt nur sehr selten vor, dass man aus dem Kino tritt und völlig überwältigt von dem gerade Gesehenen ist. Dass man den Eindruck hat, etwas nie Dagewesenes gesehen zu haben. Dass man größtenteils keine Ahnung hat, wie der Großteil des Films überhaupt realisiert werden konnte. „1917“ ist so ein Film. „Russian Ark“ hat es getan, „Birdman“ und „Victoria“ ebenso: Einen kompletten Film in nur einer einzigen Einstellung zu drehen. Sam Mendes und Kamera-Gigant Roger Deakins haben das mit ihrem neuen Geniestreich zwar nur mit Abstrichen geschafft, da etwa zur Hälfte ein Zeitsprung erfolgt und ganz selten unsichtbare Schnitte getätigt wurden, die jedoch so nahtlos sind, dass man sie kaum entdecken kann. Doch es gibt keinen Zweifel daran, dass „1917“ eines der großen technischen Kunststücke der letzten Jahre ist und nicht nur im Kriegsfilm-Genre etwas geschaffen hat, das einzigartig ist. Dafür gab es nicht nur Golden Globes für den Film und die Regie, nun erhielt „1917“ auch 10 Oscar-Nominierungen und geht als einer der ganz großen Favoriten in die Verleihung am 10. Februar.
George MacKay in 1917 © 2019 Universal Pictures International Germany GmbH
Die Prämisse von „1917“ ist betont schlicht gehalten: Wir schreiben den 6. April 1917. Der Erste Weltkrieg ist nun bereits schon im dritten Jahr, überall an der Front in Frankreich ist Ermüdung bei den zermürbten Soldaten zu spüren. Die Schlachtfelder sind übersät mit Leichen, die eins mit dem knietiefen Matsch wurden. Inmitten dieses Wirrwarrs werden die beiden britischen Soldaten Schofield (George MacKay) und Blake (Dean-Charles Chapman) von ihrem General (Colin Firth) auserkoren, eine gefährliche Mission durchzuziehen: Sie sollen innerhalb kurzer Zeit durch feindliches, aber angeblich verwaistes Land wandern, um ein 1.600 Mann großes Bataillon davor abzuhalten, in einen deutschen Hinterhalt zu laufen. Die beiden Soldaten sind die letzte Hoffnung in diesem Wettlauf gegen die Zeit, da alle Verbindungen zu der Truppe unterbrochen wurden.
Die Kamera klebt an den beiden jungen Protagonisten, folgt ihnen auf Schritt und Tritt durch die engen Schützengräben, die gefüllt sind mit Soldaten und geschäftigem Chaos. Sie folgt ihnen in den unterirdischen Bunker, wo sie von General Enimore gebrieft werden. Die Mission erhält eine persönliche Note, denn Blakes Bruder gehört dem gefährdeten Bataillon an. Die Kamera tritt mit ihnen wieder hinaus, weiter durch die Gräben und schließlich auf die verwaisten matschigen Schlachtfelder, wo eine gespenstische Ruhe herrscht, die von den verwesenden Pferdekörpern und im Matsch kaum sichtbaren menschlichen Kadavern nur noch verstärkt wird.
Benedict Cumberbatch in 1917 © 2019 Universal Pictures International Germany GmbH
Bei all dem gelingt es Roger Deakins (der 2018 nach 13 Nominierungen endlich für „Blade Runner 2049“ seinen Oscar erhielt) in flüssig choreografierten Bewegungen auch in scheinbar unmöglichen Situationen Übersicht und einen lebhaften Eindruck von der Front zu gewähren. Doch „1917“ will nicht einfach nur auf Teufel komm raus ein ungeschnittener Echtzeit-Kriegsthriller sein, er verzichtet auch auf dreckige und improvisiert wirkende Handkamera-Ästhetik. Nein, der Film sieht wie von Deakins gewohnt großartig aus, ohne aber jemals von der schmutzigen Kriegsrealität abzulenken und zu ästhetisiert zu sein. So sorgt der ständige Wechsel von Spielorten, aber auch von Lichtstimmungen dennoch für enormen visuellen Abwechslungsreichtum. Dieser reicht von scheinbarer ländlicher Idylle über die taghellen gespenstischen Schlachtfelder zu surrealen, post-apokalyptischen Dorfruinen. Sein zweiter Oscar sollte dem Briten hiermit schon sicher sein.
Die Gefahr bei einem derartigen Missionsfilm ist natürlich, dass Spannung durch ein vorhersehbares Ende verloren gehen könnte. Das ist dankbarerweise bei „1917“ nicht der Fall. Sam Mendes („American Beauty“, „Road to Perdition“, „Skyfall“) erschafft eine formvollendete filmische Vision, die den Zuschauer jederzeit elektrisiert hält und mit den Protagonisten bangen lässt. Immer wieder kommt es zu plötzlichen lebensbedrohlichen Situationen, die aufschrecken lassen und für konstante Spannung sorgen. Wie Mendes in diesem unglaublich komplexen visuellen Konstrukt immer erfindungsreich bleibt und raffinierte Sequenzen in bester Hitchcock-Manier einbettet, ist gerade angesichts der immensen logistischen Herausforderung nichts anderes als atemberaubend. Da wäre etwa eine Szene in einem deutschen Bunker, die durch kleine Details wie herumlaufende Ratten unerwartete Wendungen und damit fast unerträgliche Spannung erhalten.
Colin Firth in 1917 © 2019 Universal Pictures International Germany GmbH
Wie eingangs erwähnt, ist „1917“ voller Momente, die so erstaunlich sind, dass man selbst als Kenner kaum nachvollziehen kann, wie sie umgesetzt werden konnten. Die Herausforderung überhaupt einen Film in nur einer Einstellung (oder mehreren sehr, sehr langen) zu drehen, ist groß genug, doch „1917“ ist eben ein Kriegsfilm, der genrebedingt ohne Spektakel und Pyrotechnik kaum auskommen kann. So stockt einem immer wieder der Atem angesichts der hochaufwändigen Stunts, der Massen- und Actionszenen, die der Film zu bieten hat, ohne aus seinen ununterbrochenen Einstellungen herauszubrechen. Gerade eine Szene mit einem abgeschossenen Flugzeug wirkt auch im Nachhinein wie ein echter Zaubertrick, den man schlichtweg in seiner scheinbar unmöglichen Magie kaum fassen kann.
Doch es ist eben längst nicht nur bewundernswert, wie herausragend und einzigartig der Film in technischer Hinsicht gelungen ist, „1917“ beeindruckt auch mit seinen bemerkenswerten und hochanspruchsvollen schauspielerischen Leistungen. Auf den überragenden Hauptdarstellern MacKay und Chapman ruht letztlich der gesamte Film. Nie wirken die beiden Schauspieler unnatürlich oder künstlich, im Gegenteil, sie begeistern mit nahbarer Authentizität und meistern es, aufwändige Stuntarbeit und enorm anspruchsvolle emotionale Szenen in nahtloser Folge durchzuspielen.
George MacKay and Dean-Charles Chapman in 1917 © 2019 Universal Pictures International Germany GmbH
„1917“ ist ein aufsehenerregender, technisch virtuoser und enorm ambitionierter, aber auch erstaunlich emotionaler Film. Es macht letztlich einen wahren Meister aus, dass der Film nicht nur als komplexe filmtechnische Arbeit funktioniert, sondern eben nie seine Figuren und ihre Menschlichkeit aus dem Blick verliert. So ist „1917“ gigantisch und intim zugleich, er ist gespickt mit hochemotionalen Momenten, die so klar und nachvollziehbar gezeichnet sind, dass letztlich ein großartiger statt nur ein beeindruckender Film entstanden ist. Wer angesichts dieses epochalen Werks noch behauptet, dass das Kino tot sei, darf hier eindrucksvoll eines Besseren belehrt werden.
Fazit: „1917“ ist ein atemloser Geniestreich. Sam Mendes erschafft hier eines der großen filmtechnischen Meisterwerke der letzten Jahre und definiert den Kriegsfilm damit neu. Zugleich erzählt dieser wahrhaft unglaubliche Film aber auch eine bemerkenswert menschliche und intime Geschichte, die zusätzlich an die Substanz geht.
by Florian Hoffmann
Bilder © Universal Pictures Intl.